China im Wandel: Die Büchse der Kulturrevolution
Als Maos Rote Garden Chinas Kulturzeugnisse zerstört hatten, fand ein Geschäftsmann einen Weg, mit den Überresten Geld zu verdienen. Aus kaputten Vasen macht er neue Kunstwerke.
Diese kleine Geschichte ließe sich dramatisch erzählen. Sie könnte von einer der größten Katastrophen in Friedenszeiten handeln, der sogenannten Kulturrevolution in Maos China, als Bildung als Verbrechen galt und eine jahrtausendealte Kultur sich selbst verstümmelte. Darum geht es natürlich auch. Aber was auf den ersten Blick wie eine Geschichte über die schreckliche Vergangenheit dieses Landes klingt, erzählt weit mehr über das boomende China von heute - und wie Westler es sehen wollen.
Im Zentrum steht ein kleiner Mann namens Hu Songlin. Hu ist 57 Jahre alt, und wie bei vielen Männern seines Alters spannt sein Hemd auf Höhe des Bauchs ein wenig. Wenn er redet, beugt er sich dem Gesprächspartner entgegen, und Herr Hu redet gern. In seinem Lächeln steckt etwas, das andeutet, dass er ganz zufrieden ist damit, welchen Lauf sein Leben genommen hat.
Wenn Hu sich in seinem Geschäft im Nordosten der boomenden Innenstadt Pekings umschaut, dann geht sein Blick auf gläserne Vitrinen voller Broschen, Ringe und Ohrringe. Hübsches Kunsthandwerk, aber nichts, was es nicht auch in jedem anderen Juwelierladen gibt. Wären da nicht diese kleinen Kisten, manche aus dunkelbraun lackiertem Holz, andere aus Ochsenknochen oder Silber mit Bronzeeinlage. In allen Deckeln stecken milchigweiße Porzellanscherben mit kunstvoll gezeichneten Gesichtern, Landschaften oder Blumen. Es sind Bruchstücke alter Vasen, vor allem aus der Spätphase der Qing-Dynastie, deren Zusammenbruch 1911 auch das Ende der jahrtausendelangen Kaiserherrschaft bedeutete. Manche Kisten sind kaum größer als Zigarettenschachteln, die größten haben die Maße von Handtaschen.
Um diese Kistchen geht es. Auf seinen Broschüren wirbt Hu auf Englisch damit, die darin verarbeiteten Scherben seien "während der Kulturrevolution" entstanden, "als der Besitz antiken Porzellans als illegal galt. Also zerschlugen viele Sammler ihr Porzellan und warfen es fort." Er versuche nun, diese Bruchstücke mit neuem Leben zu erfüllen. Die "Scherbenkisten", wie er sie nennt, verkaufen sich gut. So gut sogar, dass er heute zwei schicke Läden in Peking besitzt. Die Scherben haben Hu und seiner Familie Glück gebracht.
Den Grundstein für dieses Glück hat sein Vater gelegt. Hu Senior hatte die sogenannte Kulturrevolution von 1966 bis 1976 relativ unbeschadet überlebt. Das war nicht selbstverständlich für einen, der schon seit der Zeit vor der Gründung der Volksrepublik 1949 Kunsthändler gewesen war. Leute wie er hatten es besonders schwer, als Millionen Schüler und Studenten, aufgewachsen mit dem Personenkult um Mao, im Namen ihres Herrn alles zu zerschlagen versuchten, was an die jahrtausendealte Kultur Chinas erinnerte. Im ganzen Land waren schließlich Klöster, Tempel, Museen und private Sammlungen, ja selbst Blumenbeete zerstört, weil sie wahlweise als Ausdruck "individualistischer" oder kapitalistischer Untugenden galten. Doch als China nach der zehnjährigen Raserei pflichtgemäß in Scherben lag, lebte Hu Senior immer noch und sein Geschäftssinn ebenso.
Obschon damals fast 70 Jahre alt, fing er noch mal von vorne an. "Mein Vater sah die vielen Scherben, die achtlos in einem Lagerhaus gesammelt worden waren", sagt Hu Junior in seinem Geschäft im schicken Nordosten der Hauptstadt. "Und er fragte sich, wie er damit Geld verdienen konnte." Herr Hu sagt das wirklich so. Männer wie er, die zur rasch wachsenden Unternehmerschicht Chinas gehören, scheuen sich nicht, das Ziel ihrer Arbeit beim Namen zu nennen: das Geldverdienen. Hu Senior und sein damals schon erwachsener Sohn, der bald ins Geschäft einstieg, waren endlich zur rechten Zeit am rechten Ort. Denn seit Ende der Siebzigerjahre zeigte sich, dass die neue, pragmatische Staatsführung unter der grauen Eminenz Deng Xiaoping Ernst machte mit den lange überfälligen Wirtschaftsreformen. Hus Vater war 1982 einer der Ersten, der seine Chance ergriff.
Als Erste kamen die Amerikaner. Als Touristen besuchten sie die aufblühende Stadt und das Geschäft der Hus am zentral gelegenen Ritan-Park. Am wichtigsten aber waren die neugierigen Mitarbeiter der US-Botschaft. Sie fanden im damals noch grauen Peking in Hu etwas Aufmunterndes. Für sie waren die Kästchen mit der traurig-versöhnlichen Geschichte ein Zeichen der Heilung Chinas nach der Kulturrevolution. Manche fanden sie wohl auch einfach nur hübsch.
"Meine amerikanischen Kunden waren sehr hilfreich", sagt Hu mit einem Lächeln. Selbst den Broschürentext, der die Herkunft der Scherben auf die Kulturrevolution zurückführt, haben Amerikaner für ihn verfasst. Sie schrieben ihm auf, was sie in den kleinen Kästchen sehen wollten, und das lieferte Hu ihnen. Untereinander sprachen die Amerikaner von der "Scherbenkiste", wenn sie seinen Laden meinten. Da hat er sein Geschäft gleich so benannt. Vor mehr als zwanzig Jahren hat Hu Sonching das Geschäft von seinem Vater übernommen. Den Namen "Shard Box" hat er beibehalten.
Allerdings ist das mit der Herkunft der Scherben so eine Sache. Nun ja, sagt der Unternehmer und lehnt sich dabei auf seinem Holzstuhl nach vorn. "Manche Scherben stammen tatsächlich aus der Kulturrevolution."
Am Anfang vertraute Hu auf ehemalige Bauern, die durch die Peking umgebende Provinz Hebei zogen, an Haustüren klopften und fragten, wer Porzellan, Möbel oder Kunstwerke verkaufen wolle. "Heute gibt es in der Gegend um Peking kaum noch Scherben", sagt Hu. "Heute müssen die Sammler bis weit in nördlichen Provinzen reisen, um noch welche zu bekommen."
Aber ob diese Vasen, meist preisgünstige Massenware vom Ende der Qing-Dynastie vor rund hundert Jahren, tatsächlich immer blindem Kommunisten-Eifer zum Opfer fielen und nicht einfach einer übersehenen Türschwelle - wer weiß das schon. Seine Kunden übrigens, sagt Hu, würden da nicht so genau nachhaken. Wer möchte sich die schöne Geschichte seines Souvenirs auch durch unschöne Nachfragen zerstören?
Wegen der Nachschubprobleme lässt Hu sogar Imitate anfertigen. "Die sind teurer als die Originalscherben. Denn um die Malereien nachzuahmen, bedarf es großer Kunstfertigkeit." Warum wirbt er bis heute mit der Kulturrevolution? Die Antwort darf als Beispiel gelten für die chinesische Kunst, sich bei heiklen Dingen vage auszudrücken: "Die Zettel habe ich vor zehn bis zwanzig Jahren anfertigen lassen. Ich habe noch immer welche übrig, also benutze ich sie auch."
Chinesen kämen kaum in seine Geschäfte, erzählt Hu. Die vielen Westler hingegen wollen China mit ihren Augen sehen. Dazu gehört natürlich auch die Kulturrevolution, die noch immer großen Einfluss auf das China-Bild hat. Doch im Peking der Hochhäuser, Einkaufszentren und Touristen scheint der Gedanke an Maos letztes Desaster unwirklich. Die meisten Jüngeren, selbst viele Studenten, wissen heute so gut wie nichts über jene Zeit. In neuesten Schulbüchern nehmen die Kulturrevolution und Maos Anteil daran nur noch eineinhalb Seiten ein, die Reformen Deng Xiaopings umso mehr.
Hu nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über seine Erlebnisse aus jener Zeit spricht. Detailgenau berichtet er, wie er als Schüler ansehen musste, als eine kniende Frau mit einer Geißel auf den Rücken geschlagen wurde, immer wieder. "Während der Kulturrevolution konnten die Menschen nicht mehr Schwarz von Weiß unterscheiden, nicht Gut von Böse", sagt Hu, und sein Lächeln ist dabei aus seinem Gesicht gewichen. "Mao trägt die Schuld daran. Und warum tat er all das? Nur weil er Staatspräsident Liu Shaoqi stürzen wollte." Derlei Kritik ist heute möglich in China. Solange man nicht darüber plaudert, was welcher heute noch aktive Funktionär damals so anstellte.
Wenn man sich in Hus Zweitgeschäft im Nordosten Pekings umschaut, scheint jene Zeit des verordneten Antikapitalismus unendlich weit zurückzuliegen. An der Wand hängt ein handschriftlicher Glückwunsch der ehemaligen First Lady der USA, Rosalynn Carter. Daneben prangt ein Foto, auf dem neben der damaligen Präsidentengattin Laura Bush Hus Sohn zu sehen ist. Er soll das Familienunternehmen einmal weiterführen.
Hu verdient Geld mit den Überresten einer Zeit, als Geldverdienen als Verbrechen galt. Findet er das ironisch? Seine Antwort ist noch so ein Beispiel, wie man höflich bleibt und doch alles sagt: "Westler sind clever. Viele kauften nach der Befreiung 1949 Kunststücke auf, insbesondere die aus der glanzvollen Tongzhe-Periode. Heute müssen Chinesen in die USA fahren, um Tongzhe-Kunstwerke zu sehen." Er hätte auch sagen können: Früher haben Westler die Schwäche Chinas ausgenutzt. Heute profitieren wir Chinesen selbst von unserem Kulturerbe.
Eine Frage beantwortet Herr Hu ganz offen. Wozu sind diese Dosen gut, die er seit einem Vierteljahrhundert in seiner Werkstatt herstellen lässt? Herr Hu lehnt sich zurück, breitet die Arme aus und zeigt sein schönstes Lächeln: "Ich habe keine Ahnung, was ihr Westler damit macht."
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