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■ China: Vor zehn Jahren demonstrierten Studenten für Demokratie und gegen Korruption. Was ist aus ihren Forderungen geworden?Die stille Revolution

Spektakulär waren vor zehn Jahren die Forderungen der Studenten in Peking: „Verkauft euren Mercedes und zahlt unsere Staatsschulden zurück!“, „Wir haben ein Recht, einen Dialog mit der Regierung zu führen!“ oder „Wir wollen nicht weiter lügen müssen – Journalisten und Redakteure mit Gewissen!“

Heute, zehn Jahre später, erinnert man sich im Westen eher rituell an das Tiananmen-Massaker. Die Frage, was die damalige Forderungen der Studenten mit der chinesischen Realität heute zu tun haben, stellt leider kaum jemand. Das ist ein Fehler. Denn die Forderung nach entschiedenem Kampf gegen die Korruption wurde schon vor zehn Jahren von der neuen Führung um Jiang Zemin übernommen. Immer wieder erklärte die KP-Zentrale diesen Kampf zum Angelpunkt ihrer Innenpolitik. Immer wieder mußten staatliche Machtorgane zur Schau Verzicht üben. Im letzten Jahr mußten die Armee, die bewaffnete Polizei sowie die Justizbehörden die von ihnen geführten Betriebe an zivile Träger abgeben.

Die Protestbewegung von 1989 hat das öffentliche Bewußtsein für die Korruption geschärft. Wirklich geändert hat sich seitdem nichts. Dem Staat gehen durch Bestechung und Unterschlagung noch immer 700 Milliarden Yüan (150 Milliarden Mark) jedes Jahr an Steuergeldern verloren – etwa das Volumen der jährlichen Neuverschuldung der Zentralregierung. Der Kampf gegen die Korruption ist so ineffektiv, weil eine unabhängige Überwachung durch eine freie Presse oder ein frei gewähltes Parlament fehlt.

Trotzdem hat sich etwas getan. Denn seit zehn Jahren muß sich jede Politik daran messen lassen, ob sie die Korruption eindämmen kann. Dieses Diktum prägt auch den Machtkampf in der Führung. Von der marxistischen Linken bis zur nationalistischen Rechten behaupten alle Flügel, das einzig richtige Rezept zu haben. Alle fordern eine Überwachung des Staates durch das Volk. Faktisch also machen sich alle derzeitigen politischen Kräfte zum Verfechter der Forderung jener Studentenbewegung, die die Regierung vor zehn Jahren niederschlug.

Symbolisch haben die Studentenproteste 1989 auch den nationalen Kern des Kampfes gegen das Böse mit geprägt. Nichts anderes bedeutete die Forderung, daß die Bürokraten auf ihren Mercedes verzichten sollten. Als kürzlich chinesische Studenten auf die Straße gingen, um gegen die Nato zu protestieren, forderten viele einen Boykott US-amerikanischer Waren. Und seit einem halben Jahr ist eine Debatte zwischen Linken und Neoliberalen im Gange, ob man durch Chinas WTO-Beitritt ausländische Konkurrenz importieren soll, um der einheimischen Industrie und damit der letzten unabhängigen Finanzquelle der Regierung den Gnadenschuß zu geben.

Und die Demokratie? Noch immer hat kein Normal-Chinese das Recht, einen gleichberechtigten Dialog mit der Regierung führen. Doch weil Peking gleichzeitig einen Rechtsstaat aufbaut, sieht man sich dort zusehends gezwungen, mehr Transparenz zu demonstrieren. Also laden nun ab und an Volkskongresse zur Anhörung ein. Hier und da wagen Volksgerichte den ersten Versuch, um so etwas wie offene Verhandlungen zuzulassen. Und die Führung verspricht, Kader von höheren Rängen durch offenen Wettkampf kraft fachlicher Qualifikation zu bestimmen. Im Moment überlegt die Organisationsabteilung des ZK, ob eine „offene“ Ausschreibung auch auf der Ebene der Hauptabteilungsleiter (Rang Ministerialdirektor) gelten soll. Eine Demokratie, und sei es nur im Sinne einer offenen Vertretung von Interessen, ergibt all das noch lange nicht. Trotzdem: Es sind kleine Schritte in die richtige Richtung.

Ähnliches gilt für die Presse. Einerseits herrscht, gerade zu Zeiten des Kosovo-Krieges, eine strenge Zensur. Aber auch hier sind die Interessen der Machthaber in Peking mehrfach gespalten. Denn im Kampf gegen die staatliche Korruption ruft die Führung die Presse zur Zivilcourage auf. Aber wenn die Enthüllten hohe Tiere sind, werden nicht selten die gerade frisch ermutigten Journalisten dem politischen Klüngel geopfert.

Gleichwohl: Vor 1989 wurde die Wirklichkeit gänzlich durch Parteiverlautbarungen verdrängt. Von dieser Politik ist die Führung, zögerlich abgerückt. Heute jongliert sie auch mal mit halben Fakten. „Die richtige Lenkung durch Medien“ war Jiang Zemins Slogan dafür – als eine der „bitteren Lehren“, die die Partei aus den Tiananmen-Unruhen ziehen müsse. Die damalige Forderung der Journalisten nach einem Pressegesetz ist bis heute unerfüllt. Freilich ist das Bewußtsein, daß nicht die Laune der Führung über die Frage „Maulkorb oder nicht“ entscheiden soll, schon soweit gediehen, daß ein übereifriges Provinzgericht in Nordwestchina schon ein Urteil fällte – kraft eines Pressegesetzes, das es noch gar nicht gibt.

Für die toten Demonstranten von 1989 ist all das kein Trost. Doch man versteht, daß ihr Opfer den Demokratisierungsprozeß in China noch immer prägt. Es ist ihr Verdienst, daß sich die – 1989 noch nicht klar definiert und professionell ausformuliert – Grundthesen konkreter Demokratie in das öffentliche Bewußtsein eingebrannt haben. Die Chinesen, die 1997/98 erstmals auf Dorfeben direkt wählen durften, haben diesen Zusammenhang sehr wohl verstanden. Diesem Erfolg in China zollt selbst der politische Rivale Taiwan gebührenden Respekt. „Die stille Revolution“, titelte ein Internetmagazin.

Es ist das Verdienst der Demonstranten von 1989, aufgezeigt zu haben, daß Reformen ohne friedliche, breite und aktive Beteiligung der Bürger in China nicht möglich sein werden. Und ohne diese demokratische Beteiligung driften, wie die Statistik zeigt, immer mehr Entrechtete in die Kriminalität ab. Ohne die demokratische Teilhabe ist weder die Korruption zu stoppen noch eine effiziente Marktwirtschaft aufzubauen. Offizielle Zahlen belegen, daß 11 Prozent des Bruttosozialproduktes durch Korruption zunichte gemacht werden, drei Prozent mehr als das Wirtschaftswachstum letztes Jahr.

„Stabilität über alles“, lautete das Motto, mit dem die blutige Niederschlagung der Demonstrationen 1989 gerechtfertigt wurde. „Stabilität mit allen Kräften“, lautet heute das Motto der KP. So scheinen die Mächtigen noch immer nicht begriffen zu haben, was dem Land blühen kann: Wenn nicht Demonstranten zum friedlichen Dialog antreten, werden irgendwann Massen gefährdeter Rechtloser durchs Land wüten. 150 Millionen Wanderarbeiter, 35 Millionen registrierte Arbeitslose, 60 Millionen Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, das Potential ist groß, erschreckend groß. Die KP hat nicht mehr viel Zeit, diese Zusammenhänge zu begreifen. Shi Ming

Ohne demokratische Teilhabe ist die Korruption nicht zu stoppen

Die Forderungen von 1989 sind heute zum Teil offizielle Politik geworden

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