Chefredakteur über den NSU-Prozess: „So unauffällig wie möglich“
Die türkische Zeitung „Sabah“ klagt vor dem BVerfG wegen der Platzvergabe beim NSU-Prozess. Chefredakteur Mikdat Karaalioglu erklärt, warum.
taz: Herr Karaalioglu, die Sabah hat am Montag Verfassungsklage gegen die Platzvergabe beim Münchener NSU-Prozess eingereicht. Warum?
Mikdat Karaalioglu: Es war nicht unser Vorhaben, zu klagen. Aber das Oberlandesgericht München hat keine Signale gesendet, dass es eine andere Lösung geben könnte. Deswegen sehen wir keine andere Möglichkeit als den Rechtsweg, um einen Platz zu bekommen.
Das OLG steht in der Kritik, weil es die 50 festen Presseplätze nach der Reihenfolge des Eingangs der Anträge vergeben hatte. Dabei gingen die meisten internationalen und alle türkischen und griechischen Medien leer aus. Das OLG lehnt es bislang auch ab, eine Videoübertragung zu ermöglichen.
Eine Videoübertragung wäre zumindest eine Lösung, wenn auch nicht die idealste. Aber selbst dies wurde uns nicht angeboten. Das OLG versucht vergeblich, den Prozess so unauffällig wie nur möglich zu verhandeln, ohne große Aufregung – das ist aber nicht möglich, die Qualität dieses Verfahrens lässt so etwas nicht zu.
Wie beurteilen Sie die starre Haltung des Gerichts?
Nicht die Haltung des Gerichts deprimiert uns – das Festhalten an Vorschriften ist eine sehr deutsche Verhaltensweise und natürlich in Ordnung. Wir bemängeln nur die fehlende Sensibilität der Justiz.
43, ist Chefredakteur der Europa-Ausgaben der türkischen Tageszeitung Sabah („Morgen“). Die Gesamtauflage liegt bei 320.000 Exemplaren (2011). Stammsitz der Zeitung ist Istanbul.
Verkennt das OLG die politische Dimension dieses Prozesses?
Ja, die Richter sehen diesen Fall aus rein rechtlicher Perspektive. Das internationale Interesse wird überhaupt nicht gesehen, die Emotionalität wird übergangen.
Zahlreiche Kollegen deutscher Medien habe ihre Plätze angeboten, überrascht Sie diese Solidarisierungswelle?
Ich habe mich sehr über die Angebote gefreut und hätte mit dieser überragenden Unterstützung nicht gerechnet. Die Kollegen haben diesen Vorfall nicht als Problem von uns Türken gesehen, sondern als ein Problem der Pressefreiheit.
Das Bundesverfassungsgericht will möglichst vor dem Prozessbeginn in München am 17. April über den Antrag entscheiden. Angenommen, die Klage scheitert. Gibt es schon einen Plan, wie über den Prozess berichtet werden soll?
Wenn türkische Medien nicht zugelassen werden,dann wäre das nicht dramatisch, aber es wäre peinlich. Wir werden auf jeden Fall vor Ort sein, vielleicht kommt auch unser Chefredakteur aus Istanbul. Wenn wir nicht reingelassen werden, müssen wir uns über Kollegen informieren lassen.
Die ARD kündigte an, eine Reporterin des WDR auf Deutsch und Türkisch über das Verfahren berichten zu lassen. Diese stehe auch türkischen Medien zur Verfügung.
Eine tolle Geste, die wir im Notfall in Anspruch nehmen werden.
Als 2010 Jörg Kachelmann vor dem Landgericht Mannheim stand, nahmen die Richter Rücksicht auf Medienvertreter aus der Schweiz. Mit Bezug auf das Gleichbehandlungsgesetz entschied das Gericht wegen der Staatsangehörigkeit Kachelmanns, die Schweizer Medien angemessen zu berücksichtigen. Auch die Zeitung Sabah beruft sich auf die Pressefreiheit und den Gleichbehandlungsgrundsatz …
Warum in Mannheim funktionierte, was in München bisher scheitert, kann ich mir auch nicht erklären.
Der für Türken im Ausland zuständige Vizepremier wirft dem Gericht Parteinahme vor. Zweifeln auch Sie an der Unparteilichkeit des Gerichts?
Nein, überhaupt nicht. Aber wir dürfen bei der Diskussion um das Fehlverhalten des Gerichts jetzt nicht vergessen, wie lange eigentlich staatliche Sicherheitsorgane versagt haben.
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