Charkiw-Workshop | Tag 1-5: Täglicher Blog

Jeden Tag berichtet einE andereR TeilnehmerIn von den Erfahrungen während des Workshops.

Die 15 Workshop-TeilnehmerInnen in Charkiw. Bild: Sofia Boboc

Charkiw, Freitag, 17.07.2015: Seminar-Teilnehmerin Irina Schewtschenko schreibt: Die Seminarwoche ist fast zu Ende. Höchste Zeit Bilanz zu ziehen.

Was mich am meisten beeindruckt hat, war das bemerkenswerte Verständnis von deutschen Kollegen in Bezug auf die ukrainische Mentalität.

Der rote Faden des 5-tägigen Trainings waren die internationalen Standards der Berichterstattung in Krisensituationen. Ukrainische Journalisten, die über den blutigen Konflikt im Osten ihres Landes in der weltweiten Presse berichten, tragen eine enorme Verantwortung. Sie müssen von den Ereignissen mit maximaler Objektivität berichten, was verständlicherweise alles andere als leicht ist. Die Aufgabe eines Journalisten besteht darin, ohne Emotionen und Benotung, unabhängig von der eigenen Positionierung die Geschehnisse zu schildern. Wenn ein Journalist das Bedürfnis hat, eigene Meinung kundzutun, kann er das in seinem Blog oder sozialen Netzen machen.

Europäische Medienexperte empfehlen uns vor allem Geschichten über Menschen zu erzählen. Die Leser, die Zuschauer, die Zuhörer — das sind alles auch nur Menschen! Sie können komplexe politische Zusammenhänge eher begreifen, nachvollziehen, wenn sie sich in die Lage der Menschen vor Ort, in ihre Erlebnisse hinein versetzen. Selbstverständlich muss jede Information genauest überprüft werden.

Bild: Sofia Boboc

Das Wichtigste ist — unsere deutschen Kollegen haben absolut recht — dass der journalistische Beitrag sowohl durch den Inhalt und seine Schlussfolgerungen als auch durch Stilistik und Sprache nicht darauf abzielt, den Konflikt klein zu reden oder gar zu verherrlichen sondern die Situation zu entspannen. Die Aufgabe eines Journalisten ist es nicht die Feindseligkeiten zu schüren sondern die Wege für eine Entspannung aufzuzeigen.

Das Problem der modernen Journalistik besteht darin, dass sie stets auf der Jagd nach exklusivem schockierendem Stoff ist. Man darf aber nie vergessen, dass in Zeiten der Krise eine solche Publikationen im schlimmsten Fall das Leben eines Menschen gefährden kann. Hier geht es vor allem um Militärangehörige, zivile Einwohner und insbesondere Gefangene. Europäische Standards beinhalten humanes Herangehen. Der Mensch und seine Sicherheit stehen über alles.

Charkiw, Donnerstag, 16.07.2015: Am Donnerstagfrüh haben die Seminar-TeilnehmerInnen ihre Arbeit an eigenen Texten fortgesetzt.

Die Deadline war ja für 15 Uhr angesetzt. Um 11 Uhr stand ein weiteres spannendes Thema an: stilistische Vielfalt und Sprache. Wir haben uns zwei verschiedene Artikel über dasselbe tragische Ereignis, und zwar den Mord an acht Menschen in Mazedonien, genauer angeschaut und sind auf die Unterschiede in der Schilderung und der Stilistik eingegangen. Die wichtigsten Schlüsse, die wir gezogen haben, waren folgende: In der Berichterstattung über Militärkonflikte darf man sich niemals auf nur eine Quelle beziehen, geschweige denn die Position nur einer Seite einnehmen. Optimal wäre es, wenn man an die Thematik unvoreingenommen herangeht sowie Meinungen aller Seiten des Konfliktes berücksichtigt.

Für heftige Debatten sorgte der Aspekt „Sprache der Feindseligkeit”, der Diskriminierung und der Fremdenfeindlichkeit. Als Beispiele dienten konkrete aktuelle Situationen aus der Ukraine, von denen die anwesenden KollegInnen zu berichten hatten. Es ging darüber hinaus auch um die Frage der Ethik und des beruflichen Benehmens eines Journalisten. Ein Fall wurde besonders intensiv besprochen. Es handelte sich um ein Interview mit einem lokalen Charkiwer Politiker zum Thema Schulschließung. Während des Interviews hat der Politiker versichert, dass die Stadtverwaltung alles unternehmen wird, um die Schule zu erhalten. Nachdem das Interview zu Ende war und das Aufnahmegerät ausgeschaltet, hat der Politiker hinzugefügt, dass die Schule so oder so geschlossen wird, das sei aber nicht für die Presse bestimmt. Was soll ein Journalist in einer solchen Situation unternehmen? Es wurden Vorschläge gemacht, man einigte sich letztlich auf folgende Lösung. Man könnte das Problem umgehen, indem man zum Beispiel einen oppositionellen Politiker oder Aktivisten zitiert, der von der drohenden Schließung berichtet. So wird das Vertrauen des interviewten Politikers nicht missbraucht, und der Journalist muss kein schlechtes Gewissen haben, weil er den Lesern nicht die Wahrheit erzählt hat.

Bild: Sofia Boboc

Nach dem Mittagessen haben die TeilnehmerInnen angefangen ihre Texte zu präsentieren. Jede Arbeit ist ohnegleichen. Eine Vielfalt an journalistischen Genren – vom Wort-für-Wort-Interview bis hin zum Kommentar, eine bunte Mischung an stilistischen Mitteln und Formen. Eine Augenweide für Ohren und Herzen! Alles wartet jetzt schon auf die morgige Fortsetzung ...

WITALIJ GRISCHIN, Teilnehmer des Charkiw-Workshops

 

Charkiw, Mittwoch, 15.07.2015: Der dritte Tag des Trainings ukrainischer JournalistInnen auf der internationalen Bühne war zweigeteilt.

Bild: Sofia Boboc

Der Vormittag war für die Verfassung eigener Texte reserviert. Jede TeilnehmerIn konnte sich selbst aussuchen, ob sie dazu die Hilfe der SeminarleiterInnen im Konferenzraum in Anspruch nimmt oder nach einem individuellen Plan arbeitet. Das große Thema des Nachmittags hieß „Das Interview”. Petra Bornhöft stellte uns hierzu die von ihr ausgearbeiteten Grundlagen und Empfehlungen zur Verfügung. Wir haben uns ausführlich damit beschäftigt, wie man ein Interview vorbereitet, wie man es führt und schließlich wie man einen fertigen Beitrag zusammenstellt. Insbesondere wurde auf drei verschiedene Arten der Informationsquellen (human, paper und digital), deren Vor- und Nachteile, Schwächen und eventuelle Probleme eingegangen. Es kam zu einem regen Austausch in Bezug auf eigene Erfahrung der TeilnehmerInnen.

Rollenspiele und Fehleranalyse

Ein emotionaler Höhepunkt des Trainings war das abschließende Rollenspiel. Es wurde ein Treffen von drei ukrainischen JournalistInnen mit einem von russischen Geheimdienstlern gefangengenommenen ukrainischen Soldaten sowie dem Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums inszeniert. Die Aufgabe für die TeilnehmerInnen lautete: erst den gefangenen Armeeangehörigen zu interviewen, dann darüber den deutschen TV-Zuschauern berichten. Die Rolle der deutschen TV-Moderatorin hat Barbara Oertel übernommen. Diese Art von Training hat sich im Nachhinein als sehr produktiv herausgestellt. Es hat veranschaulicht, wie unglaublich schwer es sein kann, unter gegebenen Bedingungen ein Interview zu führen. Nach der Fehleranalyse wurde versucht, eine optimale Taktik für das Führen ähnlicher Interviews auszuarbeiten. Die Ergebnisse des Rollenspiels wurden von Petra Bornhöft kommentiert.

Bild: Sofia Boboc

Zum Abschluss erzählte Bernhard Clasen über seinen Aufenthalt als Journalist und Bürgerrechtler in Berg-Karabach. Er zeigte Fotos von Menschen, mit denen er dort kommuniziert hatte, unter ihnen auch Gefangene. Die anschließende Diskussion befasste sich mit den Besonderheiten journalistischer Arbeit in Kampfgebieten.

ALJONA POPOWA, Bloggerin und Teilnehmerin des Charkiw-Workshops

 

Charkiw, Dienstag, 14.07.2015: Am Nachmittag stand eine praktische Übung auf dem Programm. Die SeminarleiterInnen verteilten Ausdrucke von drei journalistischen Beiträgen. Diese handelten von den Wahlen in Donezk, vom Leben in Berdjansk, einer Stadt in der unmittelbaren Nähe zur Front und von einer Familie, die vom Krieg vernichtet wurde. Längere Texte, geschrieben von ukrainischen Kollegen. Keine leichte Kost.

Bild: Sofia Boboc

Nachdem wir alle Texte gelesen haben, wurden wir in drei Gruppen aufgeteilt. Die Aufgabe lautete, sich mit dem jeweiligen Text auseinanderzusetzen, ihn nach Mängeln und schwachen Stellen zu durchsuchen und Verbesserungen vorzuschlagen. Die Gruppen zogen sich zurück und nahmen sich für Besprechungen reichlich Zeit.

Lebhafte Diskussionen

Anschließend wurden Ergebnisse durch je einen Vertreter im Konferenzraum präsentiert. Das Ganze mündete in eine lebhafte Diskussion über Medienmanipulationen, korrekte Begrifflichkeiten und sinnvolle Abfolge bei einer Darstellung.

Nach der Kaffeepause folgte ein Vortrag über die Unterschiede zwischen der traditionellen und investigativen Journalistik. Auch dieser Vortrag stieß auf großes Interesse und löste zahlreiche Kommentare der TeilnehmerInnen aus.

Der zweite Tag endete mit einer Redaktionskonferenz. Mit Hilfe der Trainer haben wir uns auf individuelle Themen für unsere Artikel geeinigt. Als Deadline wurde der 16. Juli 15:00 Uhr festgelegt.

ANNA SOKOLOVA, Teilnehmerin des Charkiw-Workshops

 

Charkiw, Dienstag, 14.07.2015: Der zweite Tag des Seminars widmete sich Diskussionen und praktischen Übungen. Gleich am Morgen haben wir uns einen Vortrag über die internationale Medienlandschaft mit Schwerpunkt Deutschland angehört.

Spannend war es zu erleben, wie die Einschätzung der Pressefreiheit in der Ukraine durch europäische Studien bei den ostukrainischen JournalistInnen angekommen war. Unter 180 Ländern belegt die Ukraine den 127. Platz. Manch einer war darüber erstaunt, manch einer enttäuscht. Zum Vergleich steht Russland auf Platz 148, Deutschland auf Platz 14. Die Liste wird von Finnland, Niederlanden und Norwegen angeführt. In der anschließenden Diskussionsrunde waren die KollegInnen bemüht, nach Zusammenhängen und Gründen zu suchen.

Ethik wird im Krieg auf eine harte Probe gestellt

Das nächste Thema des Tages hieß „Ethik im Journalismus”. Wir haben den Pressekodex in Deutschland und der Ukraine unter die Lupe genommen. Es wurden Parallelen und Unterschiede ausgemacht.

Anhand von ein paar anschaulichen Beispielen wurde die Erfahrung von deutschen und ukrainischen Medien in Bezug auf strittige Text- und Fotopublikationen in puncto Ethik und Schutz der Persönlichkeitsrechte erörtert. Viele dieser Bespiele waren der aktuellen Situation im Osten der Ukraine geschuldet und bezogen sich erwartungsgemäß auf die Kriegsthematik. Fazit: das Berichten von tragischen Ereignissen erfordert ein ausgewogenes und durchdachtes Herangehen.

ANASTASIA MAGASOWA, Medienaktivistin und Teilnehmerin des Charkiw-Workshops

 

Charkiw, Montag, 13.07.2015: Wisst ihr, was die schlimmste Folge der Krim-Annexion für Krim-Bewohner ist? Sicherlich denkt ihr an Wassermangel, Stromausfall, die versaute Touristen-Saison. Zumindest dachte ich so. Weit verfehlt! Das Allerschlimmste ist, dass es den Bewohnern der Krim, ganz ungeachtet deren politischen Ansichten und Vorlieben, verwehrt ist, nötige Medikamente zu bekommen. Das Problem besteht darin, dass nach russischen Gesetzen Medizin kostenlos ist. Das heißt, ein Krankenhaus muss seinen Patienten die Arzneien zur Verfügung stellen. Aber diese Arzneien gibt es in den Krankenhäusern nicht.

Du kannst krepieren

Okay, man könnte sie ganz einfach in der Apotheke um die Ecke kaufen, dort gibt es sie ja. Falsch! Den Angehörigen ist es streng verboten, Medikamente von draußen an die Kranken weiter zu leiten. Die Ärzte würden in diesem Fall mit scharfen Sanktionen zu rechnen haben. Du kannst krepieren, aber das Gesetz der Russischen Föderation zur kostenlosen medizinischen Versorgung muss eingehalten werden!

Ehrlich gesagt, ich hätte es niemals geglaubt, wenn ich es heute von einer Journalistin von der Krim nicht selbst erfahren hätte. Sie nimmt so wie ich an einem von deutschen Journalisten organisierten Training in Charkiw teil. Ihre Kollegin, die ebenfalls auf der Krim lebt, erzählte, dass die Arbeitsbedingungen für Journalisten dort wesentlich härter seien, als zum Beispiel in Donezk. Warum? Weil du in Donezk zumindest verhandeln könntest. Mit ein bisschen Glück würdest du mit einer Geldstrafe davonkommen, statt in einem Keller zu landen. Auf der Krim hingegen bist du ausgeliefert, jede noch so kleine Abweichung von der Norm kann als Extremismus ausgelegt werden.

Viele haben bereits an der Front gekämpft

Am Training der taz Panter Stiftung nehmen 15 junge Journalisten teil. Viele von ihnen haben bereits an der Front in der Ost-Ukraine gekämpft. Einige schaffen es sogar, sowohl für die ukrainische als auch für die Separatisten-Presse zu schreiben. Schwerpunkt des Seminars ist Journalismus in Konflikt- und Kriegssituationen.

Während wir heute diskutiert haben, habe ich eine kleine Entdeckung gemacht. Ich glaube, ich weiß jetzt, wodurch sich unsere Informationsumgebung von der in Deutschland unterscheidet. In Deutschland ist sie längst stabil. Bei uns wird sie gerade neu formatiert. Diese Zeit ist sehr spannend. Das ist mir ein weiteres Mal klar geworden, als ich den Jungs und Mädels aus den Charkiwer Organisationen IT Sektor und Charkiw Today zugehört habe. Das sind neue Strukturen, die ihr Ziel-Auditorium haben. Und die Zukunft werden sie gestalten, da bin ich mir sicher!

Heute war der erste Tag. Vier weitere Tage und neue Entdeckungen folgen.

IGOR SOLOMADIN, Teilnehmer des Charkiw-Workshops und Blogger