■ Cash & Crash: Warum Börsianer die besseren Wahlforscher sind
Was bewegt die Welt? Geld natürlich. Der Markt entscheidet, was sich in unserer Gesellschaft durchsetzt und was nicht. Wenn man also menschliches Verhalten vorhersagen will, so simuliert man es am besten an einer Börse.
Um eine Prognose zum Ausgang der Bundestagswahl zu erhalten, haben also die Zeit, der Tagesspiegel, die TU Wien und Ecce Terram Internet Services eine Börse eingerichtet. An dieser sogenannten Wahl$treet (http://www.wahlstreet.de), kann man via Internet Parteienaktien kaufen und verkaufen. Der Clou dabei ist, daß die Kursnotierungen der verschiedenen Parteien die augenblickliche politische Stimmung im Lande widerspiegeln.
Diese Art der Wahlprognose wurde schon mit großem Erfolg in den USA bei den Präsidentschaftswahlen 1988 und bei den österreichischen Nationalratswahlen 1994 durchgeführt. In beiden Fällen waren die Vorhersagen besser als die der etablierten Meinungsforschungsinstitute.
Denn die Parteienbörse vermeidet ein paar Schwächen, die die Meinungsumfrage noch immer zu einem schwierigen Geschäft machen. Auf die Frage „Wen würden Sie wählen, wenn am Sonntag Wahl wäre?“ verhalten sich einige der Befragten bedeckt oder geben überhaupt keine Antwort, weil sie gegenüber dem fremden Fragensteller gehemmt sind, ihre Neigung zu einer Partei offen zu bekunden. Dieses Verhalten tritt besonders bei Wählern konservativer Parteien auf. Um dies zu berücksichtigen, versehen die Meinungsforscher ihre Ergebnisse zum Beispiel mit einem Faktor, der die Werte der konservativen Parteien nach oben hievt. Auch die Wähler der PDS geben sich oft nicht zu erkennen.
Die Korrekturfaktoren können natürlich nur eine mehr oder weniger genaue Schätzung sein, und entspringen der Erfahrung des jeweiligen Meinungsforschungsinstituts. Um so schwerer fällt es den Forschern, den Einzug neuer Parteien in die Parlamente vorherzusagen. Auch denen, die keine Antwort geben, steht ihre Parteiengunst nicht ins Gesicht geschrieben. Wegen der nötigen Korrekturen am Umfrageergebnis verspottet der Mathematiker Fritz Ulmer Wahlprognosen schlicht als „Stammtischschätzungen“ der Wahlforscher.
Ganz allgemein mangelt es den Befragten an Sorgfalt – schließlich hält der Meinungsforscher sie gerade von der Hausarbeit ab, sofern er sie zu Hause anruft, oder er stört sie beim Einkaufsbummel, wenn er ihnen im Stadtzentrum auflauert.
Der Börsianer hat dagegen ein gewichtiges Interesse daran, sorgfältig zu urteilen – er will nämlich Geld verdienen. Die Gewinnchance raubt ihm die Neigung für eine Partei. So kann er einige Wochen vor der Wahl CDU-Aktien kaufen, weil er glaubt, die CDU lege zur Wahl hin zu. Trotzdem kann der Börsianer Gerhard Schröder heißen und am Wahltag das Kreuzchen bei seinem eigenen Namen machen.
Ein gewissenhafter Börsianer gelangt auf vielen Wegen zu einem Urteil über die Aktie, die er kaufen möchte. Er erkundigt sich durch die Medien über den Zustand der Parteien. Er nutzt natürlich auch Meinungsumfragen, denn diese besitzen trotz der Unzulänglichkeiten ihren Wert. Ganz sicher hingegen liest er keine Wahlprogramme, weil die Wähler ja auch keine Wahlprogramme lesen und sie sie somit nicht in ihre Wahlentscheidung einbeziehen. Des weiteren kennt er die politische Stimmung seiner Freunde, Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen. Der Grad an Aufrichtigkeit ist bei ihnen um vieles größer als bei den von den Meinungsforschern zufällig ausgewählten Befragten.
Jeder Börsianer macht also in seiner Umgebung nichts anderes als eine Meinungsumfrage. Die ist allein für sich zwar noch nicht repräsentativ, doch sie wird das in der Summe alle Börsianer, wenn ihre Anzahl und ihr Anteil an den verschiedenen Gesellschaftsschichten nur groß genug ist. Durch die Vielzahl der Börsianer kommt eine Fülle von Erkenntnissen zusammen, die ein höheres Maß an Glaubwürdigkeit besitzt als die herkömmliche Umfrage.
Soweit die Theorie. Ob das in der Praxis auch für die Bundestagswahl in Deutschland funktioniert, bleibt abzuwarten. Die Meinungsforschungsinstitute übrigens blicken skeptisch auf die Parteienbörse. So hält Sibylle Appel von Forsa sie zwar für ein gutes Stimmungsbarometer, als Instrument für Wahlprognosen scheint sie ihr aber nicht geeignet. Gerhard Weinreich
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