CannesCannes: Timbres und Tonlagen
■ Abgemischtes, Allzuabgemischtes aus Frankreich, Australien und den USA
Nicht nur bekommt John Travolta Bill Clintons rauhen Stimmton fast perfekt hin – von den gestischen Manierismen ganz zu schweigen –, Hollywood allgemein ist beim Tonabmischen perfekt. Die deutschen Synchronfassungen donnern ja schon immer den einen entscheidenden Tick zu laut. Patrice Chéreaus „Ceux qui m'aiment prendront le train“ freilich muß für jenen sechsten Franzosen gemacht worden sein, der – wie die französische Maiausgabe von Premiere schreibt – kaum etwas hört. Wenn die richtige und die adoptierte Familie von Jean-Baptiste nach einer langen Bahnfahrt vom Gare d'Austerlitz endlich auf dem Friedhof von Limoges vorfährt, um ihn unter die Erde zu bringen, dann fallen die Autotüren mit einem Knall zu, der darauf schließen läßt, daß hier schwere Waffen zum Einsatz kommen und wenigstens ein Clan der Sizilianer ins Gras beißt.
Mindestens jeder zweite Filmkritiker allerdings, nämlich immer der, der gerade neben mir sitzt, wäscht sich nicht und muffelt. Wie soll man den Umtrieben einer bourgeoisen Familie folgen, die ihr Vermögen mit Schuhen machte, wenn es neben einem nicht nach Lederluxus riecht? Jean-Baptiste (Jean- Louis Trintignant), der Verstorbene, ging nach Paris, wurde Maler, verehrte und plagiierte ersichtlich Francis Bacon. Keineswegs ein großartiger Künstler, schwul, intrigant und nihilistisch gestimmt, beherrschte er seine Studenten, Freunde und Verwandten. Beerdigt werden will er in Limoges. Dort, wo sein Zwillingsbruder Lucien (Jean- Louis Trintignant) die Firma führt. Wer Jean-Baptiste liebt, sollte also den Zug in die Provinz besteigen.
Eigentlich ein hübscher Familienzoo, den Chereau aufmarschieren läßt, samt einer kompletten Typologie schwuler Charaktere. Aber am Ende wäre weniger mehr gewesen. Vor allem weniger Musik. Will man wirklich alle Lieblingsstücke von Chereau hören, von den Doors bis zu Mahler, in zwei Stunden?
Wenn nicht ein Stein, der blau leuchtet, der Auslöser ist, sondern der Charme einer Spastikerin, die sich nur per Stimm- Maschine verständigen kann, dann wird eine Liebesgeschichte spannend. Das jedenfalls zeigt „Dance to My Song“ des Australiers Rolf de Heer. Die Hauptdarstellerin Heather Rose ist auch die Drehbuchautorin, und sie ist diese Spastikerin, die einiges mehr tun muß, als verliebt dreinzuschauen, um den Mann, den ihr die Pflegerin abspenstig macht, wiederzugewinnen. Ja, man steigt die Treppe mit dem roten Teppich hoch, ins Grand Theatre Lumière, auch als Journalistin. Aber im vollen Tageslicht ist das nur die halbe Miete.
Abends dann schaut man nur kurz vom Pressebalkon runter, bevor man sich in die Pressevorführung von Terry Gilliams „Fear and Loathing in Las Vegas“ drängt. 1971 hätte man sich das vielleicht anders überlegt. Als Hunter S. Thompsons mit seiner Geschichte, die im vierten Jahrgang des Rolling Stone veröffentlich wurde, den „Gonzo-Journalismus“ erfand. Zwei Typen, Raoul Duke (Johnny Depp) und Dr. Gonzo (Benico Del Toro), die eigentlich ein Off-Road-Rennen in der Wüste von Las Vegas für Sports Illustrated covern sollen, stopfen sich statt dessen mit LSD, Speed, Meskalin, Kokain, Alkohol, Shit, allem, was gut und teuer ist, voll, um auf den totalen Horror zu kommen. Ein extrem komischer, polytoxisch-irrer Film, der eigentlich eher wie das Dokument einer etwas lang geratenen Performance wirkt. Mehr „Gonzo“ bitte. Brigitte Werneburg
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