Canetti in Osnabrück: Bilder aus dem Zeitstrom
Eine Kooperation zwischen dem Theater Osnabrück und dem bulgarischen Dramatheater Russe endet mit dem Stück "Rustschuk - Die gerettete Zunge". nach einer Vorlage von Elias Canetti.
OSNABRÜCK taz | Wenn Elias Canetti als Kind durch die Straßen von Russe ging, konnte er an einem Tag sieben oder acht Sprachen hören. Die bulgarische Stadt war Heimat vieler Nationen und Kulturen, etwa von Griechen, Rumänen und Armeniern. Ein Viertel wurde nur von Türken bewohnt, ein weiteres von Spaniolen, einer Gruppe ursprünglich aus Spanien stammender Juden, die bis heute ein altertümliches Spanisch sprechen.
Zu dieser Bevölkerungsgruppe gehörte die Familie von Elias Canetti, der 1905 in Russe geboren wurde. In den ersten Kapiteln von "Die gerettete Zunge", dem Auftaktsband seiner Autobiografie, beschreibt der spätere Nobelpreisträger die kulturelle und sprachliche Vielfalt von "Rustschuk", wie die Stadt früher genannt wurde.
Die ersten Seiten des Buches sind auch Grundlage der deutsch-bulgarischen Theaterproduktion "Rustschuk - Die gerettete Zunge" im Osnabrücker emma-theater. Passend zum Titel zuckt in den ersten Minuten von Ivan Stanevs Inszenierung eine überdimensionale Zunge mechanisch hin und her. Um Zungen im Sinne von Sprachen geht es schließlich.
Der gesamte Bühnenboden wird in der Aufführung knöchelhoch von Wasser bedeckt. Die Erinnerungen tauchen so aus dem Strom der Zeit auf, während der alte Elias Canetti (Jan Schreiber) am Bühnenrand seine Autobiografie auf einer Schreibmaschine tippt.
Ihn gibt es zwei weitere Male im Stück: als Kind (Andrea Casabianchi) und als Jugendlichen (Oliver Meskendahl). Beide treten in Kontakt mit dem Alten. Mal hören sie zu, wie er von ihnen erzählt, mal greift der Schriftsteller energisch ins Geschehen ein. Erinnerungen, so lässt sich das deuten, sind nicht einfach da, sondern werden immer wieder neu erschaffen.
Die kulturelle und sprachliche Vielfalt wird nicht nur im gekürzten Text der Autobiografie deutlich, sondern auch in der Bühnenhandlung. Da gibt es etwa die Tonbandaufnahme eines alten Spaniolen, Lieder der sephardischen Sängerin Yasmin Levy oder den traurigen Armenier, den ein Tänzer (Krzysztof Zawadzki) darstellt. Dazu kommen bulgarische Dialoge von vier Schauspielern aus Russe, die die Dienstboten im Hause Canetti und einige andere Rollen übernehmen.
Dass sie nur Nebenrollen spielen, liegt sicherlich an sprachlichen Barrieren. Denn das Stück wird auf Deutsch gespielt. Auch dann, wenn es Ende April im Dramatheater Russe und Anfang Mai in der Hauptstadt Sofia gezeigt wird.
Dennoch bleibt die ungleiche Rollenverteilung ein kleiner Wermutstropfen in diesem Projekt, mit dem eine dreijährige Kooperation zwischen dem Theater Osnabrück und dem Dramatheater Russe endet. Mit "Die Stimmen von Russe" ist auch sie nach einem Werk von Elias Canetti ("Die Stimmen von Marrakesch") benannt.
Die gemeinsame Inszenierung ist der Höhepunkt eines gleichwertigen Austausches, der schon vor der durch die Kulturstiftung des Bundes geförderte Zusammenarbeit mit Gastspielen begann und im letzten Jahr mit einem Schauspieleraustausch fortgesetzt wurde. Da spielte der Bulgare Nikolay Dimitrov den Gastarbeiter Jorgos in der Osnabrücker Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders "Katzelmacher". Gleichzeitig reiste Laurenz Leky nach Russe, wo er in "Eine heikle Sache die Seele" auf der Bühne stand.
Mit dem Austausch trafen zwei verschiedene Theatertraditionen aufeinander. Während in der einen Regietheater und Sozialkritik selbstverständlich sind, hat sich auf den bulgarischen Bühnen mehrere Jahrzehnte lang kaum etwas verändert. Das sieht auch Ivan Stanev so, der 1959 im bulgarischen Varna geboren wurde. Künstler, sagt Stanev, hätten es heute in Bulgarien zudem "extrem schwer", weil es kaum Subventionen gibt.
Stanevs Stücke waren im kommunistischen Bulgarien nicht gefragt. Weder formell, noch inhaltlich. "Die Stücke sollten Optimismus verbreiten", sagt Stanev. Auch Experimente waren unerwünscht. Nachdem er zeitweilig sogar Berufsverbot erhalten hatte, setzte Ivan Stanev sich nach Westberlin ab. Seitdem lebt und arbeitet er in Deutschland und Frankreich und hat unter anderem an der Berliner Volksbühne inszeniert.
Im letzten Sommer reiste Ivan Stanev nach Russe, um für das Canetti-Projekt vor Ort zu recherchieren. Postkarten und alte Fotos brachte er von dort mit. Sie sind nun als Videoprojektionen im Erinnerungsstrom auf dem wässrigen Bühnenboden zu sehen, wie auch Schriftzüge und Zeichnungen.
Dazu kommt der ständige Wechsel von Stimmungen. Minutenlang etwa verflucht der Großvater Canetti (Olaf Weißenberg) im Gewitterregen seinen Sohn, den Vater von Elias Canetti. Solche und andere Momente sind immer wieder beeindruckend, wenn auch nicht ganz klar ist, was Ivan Stanev mit all dem letztlich sagen will.
Canettis Familie zog später nach Manchester, dann nach Wien und nach Zürich. Deutsch, so erfährt das Publikum von einer alten Radioaufnahme mit Canetti, war zwar die Sprache, in der er meistens schrieb, aber erst die vierte Sprache, die er lernte. Auf den Straßen von Rustschuk war sie nicht zu hören.
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