CONTRA: SINGLES OHNE KINDER ZAHLEN SCHON GENUG FÜR ELTERN: Ein neues Stigma
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts polarisiert zwischen Kinderlosen und Eltern. Wer Kinder hat, tut etwas Gutes für die Gesellschaft, denn er hat Zahler für die Pflegeversicherung gezeugt. Dies soll belohnt werden, mit einem niedrigen Beitragssatz für Eltern. Weil wir Nichteltern der Sozialversicherung – aus welchen Gründen auch immer – die künftigen Beitragszahler verweigern, dürfen wir zur Kasse gebeten werden. Diese Logik, wenn sie sich erst einmal durchgesetzt hat, werden Krankenkassen dankbar aufgreifen: Einen Bonus erhält nicht mehr derjenige, der seine Zähne gut pflegt, sondern alle, die ein Kind nachweisen können. Lang lebe der Produzent von Beitragszahlern!
Das Urteil aus Karlsruhe basiert auf einem Familienbild, das schon in den 50er-Jahren beliebt war: die Familie als Hort, an dem die Emotionen sicher sind. Ein Ort, an dem soziale Dienstleistungen gerne und kostengünstig ausgeführt werden. Wer aus diesem Kreislauf aussteigt, muss jetzt mehr blechen. Hochpreis-Steuerklasse eins, stilles Mitfinanzieren von Techniken zur künstlichen Befruchtung, Spielplätzen und Kindergärten, schweigend verrichtete Mehrarbeit, wenn der Kollege im Betrieb ausfällt, weil sein Kind Geburtstag hat – das alles reicht als Dankbarkeitsbezeugung eines einsamen Singles nicht mehr aus. Und spätestens fünf Jahre nach Beginn der Rente müssen wir uns erschießen, weil wir der Gesellschaft nichts geben, aber viel aus den Sozialkassen nehmen. So gesehen birgt das Singleleben doch noch echte Abenteuer.
Die Logik der Karlsruher Richter ist lebensfremd. Sie gehen fraglos davon aus, dass die Babys von heute die Beitragszahler und Pfleger von morgen sind. Sie unterstellen, dass in jedem Baby eine mustergültige Erwerbsbiografie angelegt ist. Was aber, wenn sich das Kind zum Dauerversager entwickelt? Wenn es keinen sozialversicherungspflichtigen Job findet? Der juristischen Logik zufolge müssten ihre Eltern später den erhaltenen Rabatt bei der Pflegeversicherung zurückzahlen. Familien mit Loser-Kindern dürften genauso stigmatisiert werden wie ein kinderloser Single.
Zudem zeichnet ein neuer „Pluralismus“ der Solidarität die Gesellschaft aus. Heute mag es zwar noch so sein, dass 50-Jährige ihre alten Angehörigen umsorgen – doch ist genau dies die Generation, die das tradierte Familienbild noch verinnerlicht hat. Die Kinder von morgen pfeifen auf diese alten Familienbande und pflegen lieber die kinderlose Patentante.
Juristisch mögen die Normvorgaben aus Karlsruhe haltbar sein. Politisch tragen sie nicht. Zu weit hat sich die Bundesrepublik inzwischen von der traditionellen Familie und ihrem Solidaritätsgebot entfernt. ANNETTE ROGALLA
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