CHINA UND TAIWAN: WELTPOLITISCHES INTERESSE AN WIEDERVEREINIGUNG: Großmachtkonflikt jederzeit möglich
Nach einer Woche heftiger Kriegsrhetorik auf beiden Seiten ist der Streit zwischen Peking und Taipeh abgekühlt. Sowohl der chinesische Präsident Jiang Zemin als auch sein taiwanescher Amtskollege Chen Shui-bian haben zurückgesteckt. Jiang hat neuen Manövern vor Taiwans Küsten eine Absage erteilt und seine Generäle zur Zurückhaltung aufgefordert. Chen hat seine streitauslösende Aussage, dass es auf jeder Seite der taiwanesischen Straße „ein Land“ gebe, korrigiert und spricht nun von zwei „gleichen Souveränen“.
Damit deutet sich an, dass im über 50 Jahre alten Taiwan-Konflikt heute Kräfte am Werk sind, die mächtiger sind als der neue taiwanesische Inselnationalismus, den Chen vertritt. Aber auch mächtiger als das alte chinesische Großreichsdenken, dem die Regierung in Peking nachhängt. Eine dieser Kräfte ist die amerikanische Verteidigungspolitik. US-Präsident George W. Bush hat noch vor dem 11. September bekannt: „Wir machen, was immer nötig ist, um Taiwan zu verteidigen.“ Seither ist klar, dass eine militärische Eskalation des Taiwan-Konflikts einen Krieg zwischen China und den USA zur Folge haben wird. Den aber kann Peking nur verlieren und wird ihn deshalb vermeiden. Jiangs Verhalten hat das bestätigt.
Die zweite Kraft, die den Taiwan-Konflikt kontrolliert, ist die ökonomisch-soziale Verflechtung zwischen Insel und Festland. 200.000 Taiwanesen sind inzwischen nach Schanghai umgezogen. Taiwans führende Industrien kommen ohne ihre Produktionsstandorte in der Volksrepublik nicht mehr aus. Diesen Trends wird ein auf der Insel modischer, von Chen vertretener antichinesischer Ethnozentrismus nicht widerstehen können.
Ernsthafte Sorgen um Taiwan wird man sich erst dann machen müssen, wenn die Beziehungen zwischen den USA und China eine Wende nehmen. Das ist die latente Gefahr an der taiwanesischen Straße: Peking und Washington können hier jederzeit einen Großmachtkonflikt provozieren. Es besteht deshalb ein selten erkanntes weltpolitisches Interesse an einer chinesischen Wiedervereinigung. GEORG BLUME
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