„Der Zeitgeist ist konservativer“

Die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Karin Prien verteidigt das neue Grundsatzprogramm der Partei. Ein Gespräch über Leitkultur, das Grundrecht auf Asyl und Konservative, die mit der Gleichstellung von Mann und Frau nicht können

Karin Prien

Foto: Stefan Boness

Interview Sabine am Orde

taz: Frau Prien, Sie sind stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU und gelten als liberale Christdemokratin. Ihre Partei stellt sich in ihrem neuen Grundsatzprogramm deutlich konservativer auf als zuvor – mit Ihrem Segen. Wie passt das zusammen?

Karin Prien: Die Themen haben sich verschoben. Die Lage der Wirtschaft, äußere wie innere Sicherheit und schließlich Migration sind die Themen, die die Menschen und dementsprechend auch uns bewegen. Wir müssen überzeugende Antworten geben, nicht zuletzt weil die liberale Demokratie immer stärker unter Druck gerät.

Ihre Kurskorrektur ist also eine Antwort auf den Zeitgeist?

Ich würde tatsächlich sagen, dass der Zeitgeist heute konservativer, die Gesellschaft insgesamt ein Stück nach rechts gerückt ist. Und natürlich muss man Mitte der 2020er Jahre andere Antworten finden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren.

Eine Ihrer Antworten ist das Bekenntnis zur Leitkultur. Das klingt nicht modern, sondern nach letztem Jahrhundert und dem Friedrich Merz von früher. Muss das wirklich sein?

Man mag sich über den Begriff streiten, aber richtig ist, dass es ein kulturelles Minimum braucht, das eine Gesellschaft verbindet, damit sie Vielfalt aushalten kann. Ich finde diesen Gedanken außerordentlich wichtig und würde mich weniger an dem Begriff abarbeiten.

Die Grundlage des Zusammenlebens ist das Grundgesetz, warum reicht das nicht?

Es geht auch darum, was uns historisch verbindet. Zum Beispiel kann man unser besonderes Verhältnis zu Israel nur aus der deutschen Geschichte heraus erklären. Jedem, der neu zu uns kommt, müssen wir erklären, warum das für uns eine so große Bedeutung hat. Auch unser Verhältnis zu Polen oder Frankreich hat viel mit gemeinsamer Geschichte zu tun. Unsere Sprache, Kunst und Kultur, das sind zumindest Dinge, die man kennen muss. Genauso wie wir das, was Einwanderer mitbringen, kennenlernen müssen. Leitkultur ist nichts Statisches, sondern etwas, was sich ständig weiterentwickelt.

Aber Einwanderer blicken anders auf die deutsche Geschichte. Ihr ehemaliger Generalsekretär Ruprecht Polenz sagt, eine Leitkultur sei übergriffig. Er hat beantragt, den Begriff aus dem Grundsatzprogramm zu streichen. Ist da nicht was dran?

Ich schätze Ruprecht Polenz sehr, aber da bin ich anderer Meinung.

Nächster Streitpunkt: der Umgang mit dem Islam und den Muslimen. Warum picken Sie sich eine Religion raus? Verfassungsfeinde gibt es auch in anderen Religionen.

Richtig, es gibt zumindest Radikale in allen Religionsgemeinschaften. Aber es gibt eben kaum extremistische Christen und Juden in Deutschland. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der politische Islam und seine extremistische Ausprägung bis hin zum Terrorismus ein besonderes Bedrohungspotenzial haben.

An der Formulierung gab es viel Kritik, muslimische Verbände sprachen von Generalverdacht, deshalb heißt es jetzt: „Ein Islam, der unsere Werte nicht teilt und unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt, gehört nicht zu Deutschland.“ Christian Wulff als Bundespräsident und Wolfgang Schäuble als Innenminister haben gesagt: „Der Islam ist Teil Deutschlands.“ Gilt das nicht mehr?

Doch, das gilt. Wir haben uns in der Antragskommission auf eine Formulierung geeinigt, bei der der von Ihnen zitierte Satz erst an dritter Stelle steht. Vorher heißt es, dass die Muslime Teil unserer religiösen Vielfalt und unserer Gesellschaft sind. Das heißt, dass es keinen Generalverdacht gibt und dass die Muslime, die in Deutschland leben, selbstverständlich zu uns gehören. Aber wir grenzen uns von einem politischen Islam ab, der die Werte, die für uns unverhandelbar sind, nicht teilt.

Der Satz „Deutschland ist ein Einwanderungsland“ steht wieder nicht im Grundsatzprogramm. Warum kann sich die CDU dazu nicht durchringen?

Den würden inzwischen wahrscheinlich alle Mitglieder unterschreiben und Friedrich Merz hat das bei den Veranstaltungen zum Grundsatzprogramm auch so gesagt. Aber wir wollen eben differenzieren zwischen Arbeits- und Fachkräften, die wir bei uns willkommen heißen, und Flucht und Migration, die wir besser steuern und begrenzen müssen.

Sie beerdigen dafür das Grundrecht auf Asyl, das als Reaktion auf die Nazi-Diktatur im Grundgesetz steht. Ihre Vorfahren, Frau Prien, wurden von den Nazis verfolgt. Können Sie das trotzdem mittragen?

Ich unterstütze ohne jede Einschränkung das Recht auf politisches Asyl. Wenn wir über die Begrenzung von Migration sprechen, dann geht es insbesondere um die Menschen, die aus anderen Gründen fliehen. Das ist individuell nachvollziehbar, zieht aber kein Recht auf politisches Asyl nach sich. Häufig bleiben diese Menschen dennoch bei uns. Oft kommen sie mit Schleppern über das Mittelmeer und über gefährliche Fluchtwege, das ist ein Zustand, den wir nicht unterstützen sollten. Zumal wir, was die Infrastruktur zum Beispiel bei Kitas, Schulen und auch beim Wohnen angeht, an Grenzen kommen.

Der Entwurf sagt: „Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Fall eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren.“ Auch politische Verfolgte sollen also nicht in Deutschland aufgenommen werden, mit Ausnahme eines willkürlichen Kontingents. Das ist das Ende des Grundrechts auf Asyl.

Ich bin nicht dafür, das Recht auf politisches Asyl aus dem Grundgesetz zu streichen und das steht auch nicht in unserem Grundsatzprogramm. Und ich sehe im Moment auch nicht, dass wir diesen Weg, der da beschrieben wird, umsetzen können. Aber ich bin dafür, dass wir mit Drittstaaten ins Gespräch kommen, um Migrationsabkommen zu schließen und Verfahren dorthin zu verlagern.

Karin Prien, 58, ist stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU und Bildungsministerin in Schleswig-Holstein. Sie wird dem liberalen Flügel der Partei zugerechnet und ist Sprecherin des Jüdischen Forums der CDU.

Ist es redlich, etwas ins Grundsatzprogramm zu schreiben, was derzeit nicht umsetzbar ist und nach Einschätzung vieler Experten auch nicht sein wird, wenn man sich an geltendes Recht hält?

Ich glaube, es ist ein ganz klares Signal, das wir als Union einräumen müssen: Sätze wie der des Kanzlers – „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ – sind keine Lösung für die Migrationsfrage. Sie sind aus vielen Gründen nicht umsetzbar. Da muss man sich ehrlich machen. Deshalb müssen wir früher ansetzen und Wege finden, den Zuzug zu begrenzen.

Kritiker sagen, das klingt alles auch ein bisschen nach AfD light. Ist das der richtige Weg, diese ex­trem rechte Partei zu bekämpfen?

Es ist infam, alles, was rechts von einem selber stattfindet, in die Nähe der AfD zu rücken. Das sollten wir als Demokraten nicht tun. Menschen in diesem Land neigen auch zum Populismus, weil sie sich nicht mehr repräsentiert fühlen und mit ihren Meinungen gleich in die rechte Ecke gestellt werden. Wer gegen die Begrenzung und für das Ordnen von Migration ist, ist noch lange kein Rechtsextremist. Man denke an die dänischen Sozialdemokraten oder an Präsident Macron.

Was ist in der Partei strittig am Entwurf des Grundsatzprogramms? Wo erwarten Sie Debatten auf dem Parteitag?

Es kann sein, dass wir die Stelle über den Islam noch diskutieren, auch wenn wir als Antragskommission einen guten Kompromissvorschlag gemacht haben. Ich vermute, dass wir bei der Kernenergie, der Wehrpflicht, im Bereich Sozialpolitik und eventuell zum Thema Gleichstellung noch einmal eine Debatte bekommen.

Manche Anträge wollen das Ziel der Gleichstellung von Mann und Frau aus dem Programm streichen. Das wurde auf dem letzten Parteitag bereits heftig diskutiert und am Ende abschlägig entschieden. Die Konservativen in der Partei geben offensichtlich nicht auf.

Die CDU will sich auf ihrem Bundesparteitag ab Montag in Berlin ein neues Grundsatzprogramm geben. Es wird das vierte in der Geschichte der Partei sein.

Der Entwurf, der unter der Federführung von Generalsekretär Carsten Linnemann erarbeitet wurde, ist 72 Seiten lag. Es gibt über 2.000 Änderungsanträge. Die Partei stellt sich damit konservativer auf.

Auf dem Parteitag werden auch der Vorsitzende Friedrich Merz, seine fünf Stell­ver­tre­te­r*in­nen und der gesamte Bundesvorstand neu gewählt.

Ja, das muss man so sehen und ich finde das schwierig. Die Diskussion war intensiv, die Abstimmung eindeutig. Dabei sollte es bleiben.

Eingeführt haben Sie beim letzten Parteitag auch eine – recht weiche – Frauenquote. Doch im Vorfeld des Parteitags wurden zwei prominenten Frauen, der hessischen Fraktionschefin Ines Claus und Gitta Connemann, Vorsitzende der Mittelstandsvereinigung, von der Kandidatur auf Spitzenämter abgehalten, damit es nicht zu viel Konkurrenz gibt. So richtig voran geht es nicht, oder?

Für mich könnte es tatsächlich schneller vorangehen, sowohl was den Bundesvorstand als auch was die Listenaufstellung zu Landtagswahlen oder die Landesvorstände angeht. Aber jetzt ging es konkret auch darum, dass wir ein gutes Team haben, das die Partei zusammengeführt und das Grundsatzprogramm auf den Weg gebracht hat. Und wir haben mit Friedrich Merz und Carsten Linnemann zwei eher Wirtschaftsliberale an der Spitze, insofern ist es richtig, dass mit Karl-Josef Laumann eine starke Stimme des Sozialflügels stellvertretender Vorsitzender werden soll. Und dann hätten wieder Frauen gegen Frauen kandidiert.

Damit wäre auch Ihr Posten als Vize gefährdet gewesen.

Selbstverständlich, ich komme aus einem kleinen Landesverband. Ich fand es sehr fair, dass Ines Claus gesagt hat, es sei nicht ihr Ziel, andere Frauen zu verdrängen, und ich freue mich, dass sie weiter für das Präsidium kandidiert.