Bundesregierung nach Lindner-Rücktritt: Die große Beschwörung
Nach Christian Lindners Rücktritt zittert die Koalition vor der FDP-Basis. Stimmt diese gegen den Europakurs der FDP, könnte dies das Ende von Schwarz-Gelb sein.
BERLIN taz | Das Erste, was vom Neuen zu hören ist, sind flehende Bitten. Die FDP müsse sich auf Geschlossenheit konzentrieren. Sich nicht wieder in Personaldebatten verstricken. Sich hinter das Ergebnis des Mitgliederentscheids stellen. Patrick Döring, frisch ausgerufener Generalsekretär, tat am Donnerstag in mehreren Interviews sein Bestes, um die Trümmerteile aufzusammeln, die der überraschende Rückzug seines Vorgängers hinterlassen hatte.
Und nicht nur die FDP versuchte mühsam, ihren Schock zu kaschieren. Auch in der Union wächst die Sorge, dass der desolate Zustand des Koalitionspartners das Bündnis ernsthaft gefährden könnte. Denn nach dem Rücktritt Christian Lindners wird in der FDP offen über die Unfähigkeit ihres Parteivorsitzenden Philipp Rösler geredet. Und der ist nicht nur Wirtschaftsminister, sondern auch Vizekanzler - und damit formal wichtigster Ansprechpartner von Kanzlerin Angela Merkel.
Hinzu kommt, dass an diesem Freitag eine weitere Eskalation droht, wenn das Ergebnis des FDP-Mitgliederentscheids verkündet wird. Verliert der Vorstand um Rösler diese Abstimmung um die Europolitik, könnte das die Koalition sprengen. Das spielen nicht mehr nur Oppositionspolitiker in Gesprächsrunden durch. Sondern auch Unionsleute - selbst wenn sie sich damit nicht zitieren lassen wollen.
Damit der Mitgliederentscheid gültig ist und den Rang eines Parteitagsbeschlusses erhält, müssten sich mindestens 21.500 der 64.000 Mitglieder beteiligen. Über das Ergebnis, das der Liberale Parteiservice in Bonn unter Aufsicht eines Notars auszählt, herrschte Rätselraten in der Partei. "Ich wage keine Prognose", sagt etwa Lasse Becker, Vorsitzender der Jungen Liberalen. "Nur die eine: Es wird sehr knapp." Und zwar in zweierlei Hinsicht. Der Vorstand hat in 200 Veranstaltungen dafür geworben, den Eurorettungsschirm ESM und den Kurs von Merkel weiterhin mitzutragen.
Ein GAU für die FDP
Doch die gut organisierte Rebellengruppe um den Abgeordneten Frank Schäffler bekam riesigen Zuspruch - und die Debatten verliefen hitzig. "Die Diskussionskultur war unterirdisch, und zwar auf beiden Seiten", räumt Becker ein. So habe Schäffler die Unterstützer des Vorstands als Sozialisten angegiftet.
Umgekehrt wird es Rösler in der Partei übel genommen, dass er am Sonntag per Interview in einer Boulevardzeitung den Mitgliederentscheid vorschnell für gescheitert erklärte. Dies könnte viele Kritiker noch zum Briefkasten getrieben haben. Und deshalb ist auch nicht mehr sicher, ob Röslers Vorhersage, dass das Quorum verpasst werde und der Entscheid deshalb verloren sei, tatsächlich eintreffen wird.
Genüsslich malen Oppositionspolitiker bereits ein Szenario aus, das ein GAU für die FDP wäre: Was, wenn durch das komplizierte Verfahren so viele Stimmen ungültig sind, dass das Quorum eigentlich erreicht worden wäre? Die Erzählung, das Abstimmungsverfahren per Brief mit eidesstattlicher Erklärung provoziere Fehler, wurde vor allem von Schäfflers Leuten verbreitet. Der wollte sich am Donnertag auf Anfrage nicht mehr äußern.
Becker glaubt nicht, dass sich ungültige Stimmen zu einem Problem auswachsen könnten: "Erstens ist unsere Basis klug genug, um die Unterlagen auszufüllen. Zweitens verteilen sich die Ungültigen sicher auf beide Lager."
Wenn Schäffler gewinnt, ist fraglich, ob die Koalition das überlebt. "Dann hätte die Basis den gesamten Vorstand brüskiert", sagt ein Freidemokrat. Und ein wichtiger Unions-Mann findet: "Dann hätten wir eine sehr, sehr ernsthafte Situation." Der Parlamentarische Geschäftsführer Peter Altmaier betont, dann käme es auf politische Führung an.
Der Druck auf Merkel steigt
Die Frage ist nur, wie soll Merkel Beschlüsse in Brüssel vereinbaren, die ein Koalitionspartner per Basisbeschluss nicht mitträgt? Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hält das für eine absurde Situation. Und er ist nicht der Einzige. Merkel ließe sich nach einem EU-Gipfel wie dem jüngsten für eine frühzeitige ESM-Einführung feiern, während die FDP dieses Instrument ablehnt.
Der Druck auf die Kanzlerin, irgendwann die Vertrauensfrage zu stellen, würde durch eine Ablehnung der FDP weiter steigen. Auch wenn Koalitionäre in den vergangenen Tagen durch den Verweis auf die Gewissensfreiheit der Abgeordneten versucht haben, ein Rettungsnetz aufzuspannen. Dass zwei wichtige Daten nah beieinander liegen, verengt den schwarz-gelben Spielraum weiter. Die Wahl in Schleswig-Holstein Anfang Mai, bei der die FDP die nächste Niederlage kassieren könnte, und die Abstimmung über den ESM im nächsten Jahr.
Für den angeschlagenen Rösler ist das eine bedrohliche Perspektive. Zumal nun offen Kritik an seiner Person laut wird. Noch sind es nur vereinzelte Stimmen aus den Ländern. Gerhard Papke, FDP-Fraktionschef im nordrhein-westfälischen Landtag, sagte der Financial Times Deutschland: "Wir brauchen klarere Kante gegenüber der Union. Und das ist vor allem Aufgabe des Parteichefs und Vizekanzlers." Baden-Württembergs Exjustizminister Ulrich Goll zielt in der Stuttgarter Zeitung unverhohlen auf Rösler: "Christian Lindner gibt letzten Endes auf, weil er sieht, dass er seine Ziele nicht erreicht hat. Das gilt nicht nur für ihn allein."
Der Druck auf den Parteichef steigt auch deshalb, weil er sich beim Mitgliederentscheid mit eigenem Engagement zurückhielt. Während sich Lindner auf 19 Veranstaltungen der teils wütenden Kritik stellte, besuchte Rösler gerade mal zwei.
Ein Gerücht lautet, dass der Mitgliederentscheid das ohnehin angespannte Verhältnis zwischen den beiden endgültig zerrüttet habe. Lindner schmiss demnach hin, weil er keine Lust mehr hatte, ständig den Kopf für fremde Fehler hinzuhalten. Und weil er sich ein Comeback offenhalten will, falls Rösler am Ende stürzt.
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