Bund klagt wegen Hartz-IV-Regelung gegen Berlin: Senat zu sozial für Sozialminister
Bundessozialminister Olaf Scholz klagt gegen das Land Berlin: Der Senat hätte Hartz-IV-Empfänger schneller zum Umzug in billigere Wohnungen zwingen sollen. Das Land hält die Klage für unbegründet.
Das Jobcenter zahlt Hartz-IV-Empfängern neben dem "Regelsatz" von 351 Euro auch die Miete und die meisten Nebenkosten. Wer allein wohnt, der erhält in Berlin ab März bis zu 378 Euro monatlich für die Wohnung, Paare dürfen bis zu 444 Euro ausgeben. Eine Familie mit drei Personen darf für 542 Euro wohnen, vier Personen für 619 Euro und fünf Personen für 705 Euro. Für jede weitere Person steigt der Betrag um 50 Euro. Wer teurer wohnt, muss einen Teil der Wohnung untervermieten oder umziehen. Den Umzug zahlt das Jobcenter.
Der Bund verklagt Berlin, weil das Land angeblich zu großzügig mit Hartz-IV-Empfängern umgeht und bei zu hohen Mietkosten nicht schnell genug Zwangsumzüge anordnet. "Es gibt einen ganz eindeutigen Verstoß des Landes gegen das entsprechende Gesetz, und Berlin ist diesen Schritt auch ganz bewusst gegangen", sagte eine Sprecherin von Bundessozialminister Olaf Scholz am Freitag. Vor dem Bundessozialgericht fordert der Bund daher seinen Anteil an den zu viel gezahlten Wohnkosten zurück, also 47 Millionen Euro für die Jahre 2005 bis 2008.
Angestellte, die ihren Job verlieren, erhalten in der Regel ein Jahr lang Arbeitslosengeld I, das sich an der Höhe des letzten Einkommens orientiert. Anschließend gibt es für Bedürftige Arbeitslosengeld II, Hartz IV genannt. Für Erwachsene sind das 351 Euro plus "angemessene" Mietkosten (s. Kasten).
Wer teurer wohnt, hat ein Problem. Denn das Jobcenter zahlt die bisherige Miete "in der Regel jedoch längstens für sechs Monate" weiter, so regelt es Paragraf 22 des zweiten Sozialgesetzbuches. Danach muss der Hartz-IV-Empfänger entweder einen Teil seiner Wohnung untervermieten oder in eine billigere Wohnung ziehen.
Der Senat fand das unsozial. "Wer arbeitslos geworden ist, kann seine Zeit besser für Weiterbildungen und für Bewerbungen nutzen als für einen Umzug", argumentierte Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner (Linke). Außerdem würden viele Hartz-IV-Empfänger schnell wieder einen Job finden, so dass der Zwangsumzug unnötig wird. Der Senat legte daher in der entsprechenden Ausführungsvorschrift fest, dass Hartz-IV-Empfänger zwölf Monate statt sechs Monate in ihrer Wohnung bleiben dürfen, bevor sie umziehen müssen.
Dafür zahlt auch der Bund mit, denn er teilt sich mit dem Senat die Wohnkosten für die Berliner Hartz-IV-Empfänger von derzeit 1,4 Milliarden Euro pro Jahr: Das Land zahlt davon gut 70 Prozent, der Bund knapp 30 Prozent. Und jetzt will der Bund seinen Anteil an den nach seiner Ansicht zu viel gezahlten Wohnkosten zurück. "Wir können ja nicht sehenden Auges einen Rechtsverstoß in Kauf nehmen", sagt die Sprecherin von Scholz.
Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner hält "diese Klage von der Sache her für unbegründet". Die Sechs-Monats-Frist im Sozialgesetzbuch sei nicht eindeutig formuliert, sondern könne unterschiedlich ausgelegt werden, erklärt Knake-Werners Sprecherin Anja Wollny. Die Berliner Regelung sei also zulässig gewesen.
Im vergangenen Jahr hatte der Bund wegen der 12-Monats-Regelung erstmals Druck auf Berlin gemacht. Der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages forderte eine Änderung. Auch der Rechnungshof des Landes Berlin hatte kritisiert, dass der Senat wegen seiner kulanten Regelung zu viel Geld ausgibt.
Der Senat hat dem Druck bereits nachgegeben, die Ausführungsvorschriften geändert und die Sechs-Monats-Frist übernommen (die taz berichtete). Die neuen Regeln treten zum 1. März in Kraft. Dass Bundessozialminister Scholz jetzt trotzdem klagt, findet seine SPD-Kollegin Ülker Radziwill enttäuschend. Radziwill ist sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion im Abgeordnetenhaus: "Wir haben ja gerade erst dem Druck nachgegeben, um dadurch eine Klage zu verhindern. Ich kann nicht nachvollziehen, warum das jetzt trotzdem kommt."
Berlin hat dank der Zwölf-Monats-Frist weitgehend vermeiden können, dass es zu Zwangsumzügen kam. In Berlin gibt es rund 330.000 Haushalte, die von Hartz IV leben, davon mussten im Jahr 2007 lediglich 680 umziehen. Im Jahr 2008 waren es von Januar bis Ende September 421 Fälle.
"Es gab viele gute Gründe für die alte Regelung", findet auch Ramona Pop, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen hält die Klage ebenfalls für "ein befremdliches Signal". Das Land Berlin hofft jetzt darauf, die Klage zu gewinnen. "Dann werden wir die zwölf Monate sicher wieder auf die Tagesordnung setzen", sagt die Sprecherin der Sozialsenatorin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung