Bürgerräte in Irland: Ein Gremium für heikle Themen
Irlands Bürgerrat stimmte für die gleichgeschlechtliche Ehe und die Aufhebung des Abtreibungsverbots. Das macht ihn aber auch zum Prellbock.
Er kann zwar keine Entscheidungen treffen, aber er kann Entscheidungen beeinflussen: Irlands Bürgerrat, die Citizens’ Assembly, hat sich bei einigen heiklen Themen bewährt. Das berühmteste Beispiel ist die Abtreibungsfrage.
Ein Paragraf, der 1983 per Volksentscheid in die Verfassung aufgenommen worden war, räumte dem Fötus dasselbe Lebensrecht wie der Schwangeren ein und machte Abtreibungen praktisch unmöglich. Jedes Jahr reisten rund 6.500 Frauen für eine Abtreibung nach England. Die UN bezeichneten Irlands Umgang mit Frauen als „gemein, inhuman, entwürdigend“.
Eine Mehrheit der irischen Bevölkerung hatte sich bei Umfragen seit Jahren dafür ausgesprochen, das Gesetz zu liberalisieren. Das wäre Aufgabe der Regierung gewesen. Dieser Pflicht entzog sie sich, weil sie damit einen Teil der Wählerschaft abgeschreckt hätte. Stattdessen wälzte sie das Problem auf den Bürgerrat ab.
Die Citizens’ Assembly tagte fünf Monate lang an den Wochenenden in einem Hotel. Zum Schluss sprach sie sich mit Zweidrittelmehrheit für ein Recht auf Abtreibung aus. Die Wählerinnen und Wähler waren beim darauffolgenden Referendum derselben Meinung wie der Bürgerrat – und die Regierung war aus dem Schneider.
Der Bürgerrat ist ein Produkt der Wirtschaftskrise, die Irland 2008 in den Bankrott getrieben und der Nation harte Sparmaßnahmen abverlangt hatte. Viele Menschen machten das politische System und die Politiker für die Krise verantwortlich. David M. Farrell und Jane Suiter, ein Politikwissenschaftler und eine Politikwissenschaftlerin, überzeugten die Parteien davon, die Öffentlichkeit stärker in den politischen Prozess einzubeziehen.
Die Regierung führte 2012 einen Verfassungskonvent ein. Der schlug die Zulassung der gleichgeschlechtlichen Ehe vor. Beim Volksentscheid stimmten mehr als 62 Prozent dafür, und Irland wurde zum weltweit ersten Land, das eine völlige Gleichstellung homosexueller Paare auf Grundlage einer Volksbefragung beschloss. Der Verfassungskonvent wurde 2014 aufgelöst, zwei Jahre später rief die Regierung die Citizens’ Assembly ins Leben.
Die 99 Mitglieder sollen einen Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren, was Geschlecht, Alter, soziale Klasse, regionale Herkunft und Migrationshintergrund betrifft. Die Vorsitzende, die ehemalige Richterin Mary Laffoy, wurde von der Regierung bestimmt. Die Empfehlungen der Bürgerräte haben die Regierung in drei Fällen dazu bewogen, einen Volksentscheid zu organisieren. In allen Fällen spiegelte das Ergebnis ziemlich genau die Abstimmung im Bürgerrat wider.
Ganz so rosig ist das Bild dennoch nicht. Viele Vorschläge scheiterten, weil die Regierung sie von vornherein ablehnte.
Außerdem müssen die Bürgerräte zwölf Wochenenden und Zeit für die Vorbereitung opfern, werden aber nicht dafür bezahlt. Es ist daher wenig überraschend, dass nur 61 der 99 Mitglieder bis zum Ende der ersten Sitzungsperiode durchhielten. Und nur 26 davon nahmen an jedem Treffen teil. Darüber hinaus werden die Kosten für die Kinderbetreuung während der Sitzungen nicht erstattet, sodass vor allem Mütter zwischen 20 und 40 unterrepräsentiert sind.
Bisher überwiegen trotzdem die positiven Aspekte. So hat die Regierung zum Beispiel auf Empfehlung des Bürgerrats im Mai 2019 einen „Notstand für Klima und Artenvielfalt“ ausgerufen. Einen Monat später folgte ein ambitionierter „Aktionsplan zum Klimawandel“, der nun seiner Umsetzung harrt.
Ein wichtiger Grund für das Vertrauen der Bevölkerung in den Bürgerrat ist die Tatsache, dass die Sitzungsprotokolle und Abstimmungsergebnisse transparent sind. Der Bürgerrat funktioniert aber vor allem deshalb, weil es den Politikern in den Kram passt. Sie können brisante Themen aufschieben und an eine nicht gewählte Organisation auslagern. Aber sie haben auch etwas dabei gelernt: Die Nation ist liberaler, als die Politiker dachten.
Wie geht es weiter? „Das Instrument der Bürgerräte muss klug eingesetzt werden“, sagt David M. Farrell. „Die Demokratie ist in Gefahr, und es ist nicht das erste Mal. Man darf aber nicht vergessen, dass Demokratien überlebt haben, weil sie experimentierten.“
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