Bürgergremium in Frankreich: Freiheit, Gleichheit, Klimaschutz
Frankreich lässt 150 Bürger*innen Reformen erarbeiten. Heraus kommt ein radikales Ökoprogramm inklusive Biogutscheine und Fahrverbote.
In Frankreich sorgen konkrete Vorschläge zum Klimaschutz aus der Bevölkerung für politischen Wirbel. Bei Umweltpolitikern und linken Organisationen fanden die teilweise drastischen Vorstellungen am Wochenende Zustimmung: Jean-Luc-Mélenchon von der Partei La France insoumise bedauerte lediglich, dass in diesem Arbeitsprogramm nichts zum Ausstieg aus der Kernenergie gesagt wird.
Die Rechte dagegen reagiert mit Entrüstung und Ablehnung. Der Parteichef der konservativen Républicains, Christian Jacob, sieht in den Vorschlägen das Exempel einer „Strafökologie“. Die Rechtsextreme Marine Le Pen spricht von „realitätsfremden Vorschlägen, der eine verrückter als der andere“.
Seit neun Monaten haben sich 150 Bürgerinnen und Bürger im Auftrag von Staatspräsident Emmanuel Macron mit der Frage beschäftigt, wie Frankreich die Klimaziele erreichen könnte. Die Mitglieder dieses „Bürgerkonvents für das Klima“ waren unter Millionen von Wahlberechtigten ausgelost worden. Am Sonntag präsentierten die 150 LaienberaterInnen offiziell ihre 150 Vorschläge aus den fünf Arbeitsgruppen Wohnen, Konsum, Verkehr, Ernährung und Produzieren.
Die BürgerInnen fordern vor allem mehr Beteiligung, die Präsident Macron immer versprochen hatte: Arten-, Klima- und Umweltschutz sollten in der Verfassung verankert werden. Dazu braucht es eine Volksabstimmung. Im Bereich der Energiewende soll nach den Vorschlägen die Gebäudesanierung für die privaten und öffentlichen Eigentümer bis 2040 obligat werden. Dafür gäbe es Subventionen, bei Unterlassung aber würden Bußen drohen. Die Heizung von Terrassen der Restaurants und Cafés und die nächtliche Innenbeleuchtung der Geschäfte sollte verboten werden.
Werbeverbot für Benzinfresser
Die Konsumgewohnheiten müssten sich ändern, heißt es: Selbstbedienungsrestaurants und Kantinen sollten täglich mindestens ein vegetarisches Gericht anbieten. Damit auch Leute mit wenig Kaufkraft lokal produzierte Bioprodukte essen, sollten sie Gutscheine bekommen, finanziert durch Abgaben von 81,5 Prozent auf industrielle Nahrungsmittel.
Glasflaschen sollten wieder mit Pfand belegt werden, ab 2023 müssten auch die in Frankreich verkauften Industrieprodukte reparierbar sein und müsse das Plastikrecycling obligatorisch werden. Werbung für Produkte und Dienstleistungen mit besonders hoher CO2-Bilanz solle pauschal untersagt werden. Das soll auch für Pkws gelten, die die Norm von 95 Gramm pro Kilometer überschreiten.
Fahrzeuge mit hohem Schadstoffausstoß sollen nach diesen Plänen kein Zugang mehr zu den Stadtzentren bekommen. Auf den Autobahnen solle das Tempo von 130 auf 110 km/h gesenkt werden. Im Gegenzug soll der Bahnverkehr mit einem Investitionsplan und der Senkung der Mehrwertsteuer auf Tickets stark gefördert werden. Inlandsflüge (im europäischen Teil Frankreichs) von weniger als vier Stunden Dauer dagegen würden untersagt, wenn eine Alternative auf der Schiene existiert.
28-Stunde-Woche fällt durch
Es sollten zudem keine zusätzliche Flughäfen gebaut und bestehende nicht ausgebaut werden. Zur Finanzierung dieser Klimapolitik könnten die Dividenden von Unternehmen, die jährlich mehr als 10 Millionen Euro an ihre Aktionäre ausschütten, mit einer 4-prozentigen Abgabe belastet werden.
Die vielleicht spektakulärste Idee ist in der Schlussabstimmung durchgefallen: die Senkung der wöchentlichen Arbeitszeit von 35 auf 28 Stunden ohne Lohnverlust für die unterste Gehaltsklasse (SMIC). Heftig umstritten war und bleibt auch das Tempolimit auf Autobahnen. Gegen diese Perspektive hat die Automobillobby bereits eine Petition gestartet.
Nichts zwingt die Staatsführung, diese Ideen umzusetzen. Doch der politische Druck ist stark. Denn die Idee dieser „Bürgerkonvention“ kam nach den monatelangen Protesten der „Gelbwesten“, die unter anderem die Arroganz der Zentralmacht und den Mangel an Demokratie beklagt hatten. Präsident Emmanuel Macron will sich erst nächsten Montag zu diesem Klimaprogramm äußern. Er hat jedoch angedeutet, dass es eventuell Volksabstimmungen über manche Vorschläge geben könnte. Er könnte damit vor den Präsidentschaftswahlen von 2022 zeigen, dass er nicht alle seiner klimapolitischen Versprechen von 2017 vergessen hat.
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