■ Bücher des Erinnerns, Lektüren über einen untergegangenen realsozialistischen Alltag: Das sozialistische Tischleindeckdich
Walter Ulbricht hatte 1960 eine opulente Vision: „Die ökonomische Hauptaufgabe erfordert, unserer Bevölkerung den Tisch in jeder Beziehung wirklich reichhaltig zu decken.“ Das schaffte die DDR mal ganz gut (vor allem in den sechziger Jahren), dann wieder ziemlich schlecht. Über Höhen und Tiefen der realsozialistischen Nahrungskultur wird man in dem Buch mit dem Titel: „Wunderwirtschaft – DDR-Konsumkultur in den sechziger Jahren“ trefflich informiert. Wer es knapper liebt, ist mit dem vor kurzem erschienenen Büchlein unter der Überschrift „Deutsche Kulinarische Republik – Szenen, Berichte und Rezepte aus dem Osten“ bestens bedient.
Mit ihrem Hang zur feinen Ironie haben die beiden jungen Autoren Tobias Stregel und Fabian Tweder „lukullische Komödien und Tragödien“ aus den Zeiten des Sozialismus zusammengetragen. Beide sind mit den gastronomischen Genüssen des Sozialismus in den „Farben der DDR“ – eine der gängigen politischen Phrasen jener Zeit – großgeworden, wissen also, wovon sie schreiben. Neben der Zeittafel, die alle sinnvollen und widersinnigen Innovationen der DDR-Nahrungsmittelindustrie auflistet, wurden zum Teil absurd anmutende Geschichten ausgegraben.
Wie die vom „Zyankali-Zucker“: Im Juli 1962 klebte an einem mit Weißzucker beladenen Güterwaggon aus Hamburg plötzlich ein Zettel mit dem Hinweis: „Vorsicht, Zyankali!“ Scheinbar das Werk eines Scherzkekses, denn die untersuchte Ladung war einwandfrei und enthielt tatsächlich puren Zucker. Doch die Mär vom getarnten Zyankalitransport drang bis Berlin, Hauptstadt der DDR, vor. Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrates, wies an, alle Rohstoffe aus Westdeutschland künftig auf ihre „lebensmittelhygienische Unbedenklichkeit zu untersuchen“. So wurden lange Zeit Proben gezapft, ohne je Gift zu finden – was 150.000 Mark im Jahr kostete. Erst 1967 blies der Lebensmittelminister die Kontrollen ab.
Wie Westkaugummi die DDR eroberte, ist ebenfalls nachzulesen. Dann war da noch die Versorgungskrise bei Milch, Butter und Fleisch im Jahre 1959. Nur zwei Jahre später exportierte die DDR-Lebensmittelindustrie Süß- und Dauerback- sowie Fleischwaren, Spirituosen und Biere in über vierzig Länder. Für die Bürger im eigenen Land blieb da manches Mal nicht viel übrig. Darüber konnte auch die stattliche Zahl von „62 Trocken- und 16 Naßsuppen“, die der VEB Suppina herstellte, nicht hinwegtrösten. AH
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