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BuchvorstellungDas eigene Treppenhaus ist am schönsten

Über Neukölln hat fast jeder eine Meinung, aber was sagen die, die dort leben? Im Buch "Ein Haus in Neukölln. Fast eine Liebeserklärung" nehmen 36 Bewohner eines Hauses ihren Bezirk in Schutz. Sie schätzen ihn in seiner Kauzigkeit

Was wurde Neukölln nicht schon hoch- und runtergeschrieben. Rütli-Krawall-Prekär-Kiez, Kreuzkölln-Künstler-Szene-Kiez. Alle, von RTL2 bis zur FAZ, sind sie in den Bezirk eingefallen, um zu zeigen, wie brutal oder - je nach Sichtweise - wie genial dieses Stück Berlin doch ist. Wer nicht zu Wort kam, waren zumeist die, die dort wohnen. Die, die Neukölln sind. Nun gibt es mittendrin in dem sagenumwitterten Bezirk, in der kleinen Warthestraße, den Versuch, Neukölln einmal von unten aufzurollen: In dem im Juni erschienenen Buch "Ein Haus in Neukölln. Fast eine Liebeserklärung" schildern 36 Bewohner eines Mietshauses am Wartheplatz ihre Sicht der Dinge im Bezirk. 36 Erzählungen über einen Kiez, der ständige Rechtfertigung verlangt.

Es sind keine prekariaten Eckkneipen-Dauergäste, keine arabischen Großfamilien, die im Warthehaus wohnen. Zu Wort kommen der Bahn-Betriebsrat und die Schrottplatz-Buchhalterin, der portugiesische Maler und die frühere Nonne, die Jurastudentin und der Arbeitslose. Von der ersten bis zur fünften Etage haben Angelika-Benedicta Hirsch und Lothar Köster die Bewohner des alten Gründerzeitbaus interviewt. Die Autoren selbst wohnen in der allerobersten Wohnung unterm Dach. Ihr Buch eröffnet einen Blick hinter die Haustüren eines Bezirks, der sonst so gern von außen einsortiert wird. Man habe die Mieter einfach sprechen lassen, so Köster, - über sich, über den Kiez - und das genau so abgedruckt. Nichts hätte es zu ergänzen gegeben, strahlt der 51-Jährige. "Ein Glücksfall."

Es sind Geschichten von Menschen, die ihr Neukölln in Schutz nehmen, es in seiner Kauzigkeit schätzen. Grün, zentral und preiswert sei es hier, heißt es unisono. Und das eigene Treppenhaus sei eines der schönsten überhaupt. Kein Wort über Schlägereien, abgezogene Handys und überall herumlungernde Drogendealer. Es ist eher Wehmut denn Frust, die dennoch in manchen Zeilen durchklingt. Die Alten (Klaus wohnt seit 64 Jahren im Haus!) vermissen ihr altes Rixdorf: das doppeltgebackene Krustenbrot und die "Klöntreffs" in den Urkneipen. Die Mittelalten vermissen die gute alte Zeit, als Rosenstolz noch auf der WG-Punkparty in der Silbersteinstraße spielte.

Und die Jungen vermissen etwas mehr Hipness: ordentliche Straßencafés und weniger Hundescheiße. Im Grunde ist aber alles halb so wild. Man traut sich offen sich hier schlicht und einfach wohlzufühlen: hier zwischen Hermannstraße und dem gerade beerdigten Flughafen Tempelhof. Das lässt auch Muße zum Träumen: vom Auswandern nach Neuseeland, einem Bauernhof in Sachsen-Anhalt oder einem Besuch des Ätnas beim Ausbruch.

"Was in Neukölln nicht stimmt, ist offen sichtbar", sagt Köster. "Das ist allemal besser, als wenn die Leichen im Keller versteckt liegen." Statt Krawall sieht der Kommunikationswissenschaftler vielmehr eine Bedächtigkeit des Bezirkes, ein langsam-gesundes Wachsen, eine Lebensführung ohne Dauerekstase. "Es gibt so viel schönes Kleines in Neukölln, ohne Bedürfnis auf Weltruhm." Dieses Buch ist eines davon.

Angelika-Benedicta Hirsch/Lothar Köster: "Ein Haus in Neukölln. Fast eine Liebeserklärung". 221 Seiten, 13 Euro. Das Buch ist nur online über www.verkanntenverlag.de bestellbar

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