piwik no script img

Archiv-Artikel

Buchtipp

Polarnacht

Bei ihrer ersten Begegnung im Hotel von Longyearbyen hielt Marie Tièche den Mann für verrückt. Ob sie mitkommen wolle in die Antarktis, hatte der 62-jährige Hamburger Physikprofessor Hauke Trinks sie gefragt. Ein ganzes Jahr nach Kinnvika auf die nördlichste Insel von Spitzbergen, um ihm Gesellschaft zu leisten, wenn er das Gletschereis erforscht. Es ist nicht die erste Expedition des erfahrenen Seglers. Aber 365 Tage auf 16 Quadratmetern in einer kleinen Holzhütte leben bei bis zu 30 Grad minus und der ewigen Dunkelheit der Polarnacht?

Ein ganzes Jahr oder gar nicht, das war eine der Bedingungen, zurückfahren keine Option. Soll sie sich darauf einlassen? Einlassen auf einen 15 Jahre älteren, nahezu unbekannten Mann, in dessen Händen ihr Schicksal liegen würde? Ob sie gesund sei, will Hauke Trinks wissen, denn in Kinnvika ist medizinische Hilfe je nach Wetterlage Tagereisen entfernt. Ob sie mit Waffen umgehen könne, denn die einzigen Nachbarn im Ort seien Eisbären. Marie Tièche lässt sich nicht abschrecken. Die 53-jährige Engländerin sagt Ja und stürzt sich in das größte Abenteuer ihres Lebens. Zum Glück, denn nach Kinnvika kommt man nur entlang ihrer Zeilen. Der Forscher ist seit Jahren der Erste, dem es erlaubt war, in der verlassenen Forschungsstation, 1.000 Kilometer entfernt vom Nordpol, zu überwintern.

Die Autorin beschreibt ihre Reisevorbereitungen, wie sie Unmengen an Essen einkauft, kistenweise Stoffe einpackt und die mechanische Nähmaschine ihrer Mutter. Ihre größte Angst ist, sich zu langweilen während der langen, dunklen Tage. Fehlanzeige.

Marie Tièche erzählt von einer Reise zu sich selbst, zum Beispiel davon, dass sie sich bei ihrer Ankunft in Kinnvika zum ersten mal erwachsen fühlte. Das Buch reflektiert die Ängste und Glücksmomente einer unabhängigen, mutigen, aber auch weichen Frau. Ihre kritische Selbstbeobachtung und die Beschreibung von Hauke Trinks machen es zu einer einzigen Liebeserklärung – an die Einsamkeit der Arktis und an den Forscher. FREDERIKE MEYER

Marie Tièche: „Kinnvika 80 Grad Nord. Eine Frau, ein Mann und die Einsamkeit der Polarnacht“. Aus dem Englischen von Tamara Trautner. Frederking & Thaler, München, aus der Reihe On Tour, ISBN 3-89405-493-x, 22 €