Buchtip: Verschleierte Gefühle
■ Zwei zeitversetzte Reiseberichte zum Jemen in einem Roman. Ein literarisches Spiel
„Wir sollten nie ferner als bis zum Bodensee reisen“, wird dem jungen Wissenschaftler nach einer traumschweren Nacht im Jemen klar. Der Studienaufenthalt des Ethnologen im Jemen nimmt Körper und Seele mit – manchmal mit durchschlagender Wirkung. Der Jemen, das ist Männergesellschaft, abweisende Häuser wie Trutzburgen, karge Landstriche, Krieger mit Kalaschnikow und Krummdolchen, unverbindliche Berührungen, undurchsichtige Annäherungen und hinter Mauern verbannte Frauen, verhuschte Schatten. Das Buch „Leeres Viertel“ von Michael Roes ist anthropologische Studie, Abenteuerroman und Reisebericht. Zwei Handlungsstränge durchziehen den Roman: die zeitgemäße Jemenreise des jungen Forschers und die historischen Tagebuchaufzeichnungen des Alois Schnittke. Der junge Wissenschaftler liest die Aufzeichnungen Schnittkes bei seiner Reise in den Jemen. Schnittke reiste im 18. Jahrhundert von Weimar aus auf dem Landweg dorthin. Zusammen mit seinen Reisegefährten will er das Geheimnis der mosaischen Gesetzestafeln ergründen. Auch der moderne Ethnologe will im Jemen forschen. Sein Thema ist der Zusammenhang von Spiel und Kultur. Beide Erzählebenen sind orthographisch und stilistisch voneinander abgesetzt. Schreibt der eine im gewundenen Deutsch eines Goethe, hat der andere der Rechtschreibreform vorgegriffen. Beide Reisende haben als Endstation „das leere Viertel“, die größte Sandwüste der Welt.
Hat jede der Handlungsebenen dieses literarischen Spiels ihre eigene Spannung, so wird durch den beständig durchgehaltenen Wechsel und die Kontrastierung der beiden Reiseberichte die Spannung um ein vielfaches erhöht. Der Weimarer Gelehrte Schnittke und der moderne Wissenschaftler haben unterschiedliche Wertigkeiten, unterschiedliche Sichtweisen. Doch häufig bestaunen sie auch das gleiche in zeitversetzter Entwicklung. Ihre Reisen nähern sich nicht nur örtlich immer mehr an. Beiden deutschen Orientreisenden ist eine unvoreingenommene Neugier gemeinsam. Diese läßt sie in die Festung der arabischen Männergesellschaft vordringen. Wie beim Spiel sehen sie sich dort mit einem festen Regelwerk konfrontiert. Die Regeln ihrer eigenen Kultur verlieren an Bedeutung, Verbindlichkeit. „Könnten wir also auf rein sozialer basis, unserem verhalten in einer spielgemeinschaft vergleichbar, ein verbindliches regelsystem schaffen, das keinen anspruch auf universalität erhebt und keine weitere legitimation beansprucht als gemeinsam vereinbart und von allen akzeptiert worden zu sein?“ fragt sich der junge Wissenschaftler. Frauen begegnen den Akteuren höchst
selten. Der private Bereich, das Reich der Frau, bleibt ihnen verschlossen. Sie sind auf den öffentlichen Raum der Gesellschaft beschränkt, und dieser gebührt allein den Männern. Ehre, Rituale wie Tanz und Krieg und homoerotische Begegnungen sind wesentliche Aspekte dieser harschen Männergesellschaft. „Vielleicht wäre es möglich, mich hier in Bejt al-Hadschar zu verlieben“, fragt sich der junge, homophile Wissenschaftler. „Vielleicht ist sogar der eine oder andere ibn hadschar in mich verliebt, nur habe ich es bisher noch nicht wahrgenommen. – Was bedeutet diese „liebe“? Gefühle sind ebensowenig authentisch, das heiszt unabhängig von kulturellen konzepten wie sprachen oder sichtweisen.“ Und so schweift das sexuelle Begehren des schwulen Wissenschaftlers, gewöhnt an westliche Freizügigkeit und Triebregulierung, zwischen uneindeutigen Gesten und einer ihm fremden Nähe und Körpersprache rastlos hin und her. Verschleierte Gefühle. Michael Roes versucht sie unentwegt zu entschleiern, zu erklären. So bestechend die subjektive Darstellung der Annäherung an die fremde Kultur in Michael Roes' Roman ist, so ermüdend ist manchmal die analytische Aufarbeitung derselben. Michael Roes zerredet häufig mit ausschweifend-geisteswissenschaftlichem Gestus. An manchen Stellen kommt das Buch verbildet daher. „Hier bin ich mehr denn je“, notiert der Protagonist, „repräsentant meiner eigenen kultur. Die reflexion stellt sich zwischen mich und die anderen.“
Überzeugend sind die subjektiven Empfindungen: die Selbstspiegelung, Verwirrung, Desorientierung, Einsamkeit, Männererotik – ein Gefühlspotpourri, bei dem die eigene Werteskala durcheinandergerät. Und dabei verliert die wissenschaftliche Objektivität, mit der beide Orientreisende angetreten sind, ihre Koordinaten. Sich einlassen ist das eigentliche Abenteuer der Reise.
Die Begegnung mit dem Fremden bringt Erschütterung und Selbstzweifel. Und diesen Prozeß schildert Michael Roes kenntnisreich und spannend. „Ich verstehe deinen Ueberdruss, Eugen“, bestätigt Schnittke seinem Reisegefährten, „kommt es doch auch mir immer öfter vor, als wisse ich endlich Alles oder doch wenigstens mehr vom Oriente als die Orientalen selbst. Dann wieder weiss ich nicht mehr zu unterscheiden, was alleyne meinem Geiste entsprungen und was wirklich geschehen ist, erinnern wir uns doch nicht weniger lebendig an unsere abentheurlichen Lectüren, Träume und Phantastereyen als an die wirklichen Abentheuer.“
Reisen ist vor allem sinnliches Begehren, die Lust am Fremden, am Unbekannten und die Lust an der eigenen Vorstellung davon. Und Michael Roes' Buch weckt die Sinne. Eine gekonnte Verführung, manchmal zu gelehrig. Edith Kresta
Michael Roes: „Leeres Viertel – Rub'al-Khali“. Gatza bei Eichborn 1996, 774 Seiten, 49,80 DM
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