Unter den Autoren der Stillste

Auch das Nichtsprechen kann komplex sein: „Die sieben Sprachen des Schweigens“ von Friedrich Christian Delius umfasst drei autobiografische Erzählungen

Zur Zeit der Studenten­revolte nahm Friedrich Christian Delius die Rolle des Stillen an. Erinnert wird er aber auch als großer Revoluzzer Foto: André Wunstorf

Von Oliver Pfohlmann

Literatur ermöglicht, unter anderem, den Zugang zu besonderen individuellen Erfahrungen. Eher ungewöhnlich ist freilich, wenn das erzählte Besondere zum Erscheinungszeitpunkt des Textes zur quasikollektiven Erfahrung geworden ist. 2008, einen Tag vor seinem 65. Geburtstag, fing sich Friedrich Christian Delius ein mysteriöses Virus ein. Um Atem ringend suchte er die Notaufnahme auf; wenig später musste er über zwei Wochen lang dem Tode nah künstlich beatmet werden, teils im Koma, teils im Delirium.

In einer „Lebensanzeige oder die Stimmlosigkeit der Stimmbänder“ betitelten essayistischen Erzählung berichtet der heute 78-jährige Schriftsteller nun davon, wie nach einer ersten Phase der „bildlosen uhrlosen zeitlosen konturlosen Bewusstlosigkeit“ sein Gehirn, vielleicht aus Langeweile, irgendwann damit anfing, ihm eine bizarre Gaunerkomödie in Fortsetzungen vorzugaukeln, mit Geldfälschern, russischen Mafiosi und unheimlichen Pflegern im „Kleinsten Hotel der Welt“. Vor allem aber erzählt er eindringlich von der Ohnmacht und Wut desjenigen, der während des allmählichen Wieder-zur-Welt-Kommens feststellen muss, dass ihm die Beatmungsmaschine die Stimme geraubt hat. Dass er also gleichsam zum Schweigen verurteilt worden ist und das Sprechen erst mühsam wieder erlernen muss.

Damit setzt die letzte der drei autobiografischen Erzählungen, die Delius unter dem schönen Titel „Die sieben Sprachen des Schweigens“ versammelt hat, eine Art (selbst-)ironischen Schlusspunkt. Denn in den ersten beiden Texten des Bandes pflegt der Schriftsteller das sympathische Selbstbild des schüchternen „Schweigers vom Dienst“. Seit Studententagen sei ihm Schweigen zum „Markenzeichen“ geworden, so Delius; auch und gerade auf Treffen von Au­to­r:in­nen trete er regelmäßig als „der Stillste“ auf und beschränke sich aufs Zuhören.

Dass Selbst- und Fremdbild vielleicht auch in diesem Fall nicht hundertprozentig übereinstimmen, kann man aus dem ebenfalls in diesen Tagen erschienenen Buch von Helmut Böttiger über die Literatur der Siebziger erfahren, zu deren maßgeblichen Prot­ago­nis­t:in­nen Friedrich Christian Delius gehörte. Damals habe sich der in seiner Anfangszeit als „FC Delius“ firmierende Autor nämlich unter all den politischen Krawallschachteln und Querköpfen jener Jahre seinem Markenzeichen zum Trotz den „Ruf des größten Revoluzzers“ erarbeitet, erinnert Böttiger mit spöttischem Unterton. Doch das nur nebenbei.

Wie auch immer: Wer Delius’Erzählung „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) kennt, weiß, dass sich die biografischen Ursprünge von Delius’Schweigelust in der Kindheit des Autors finden lassen, nämlich im Leiden an einem autoritären, vom Krieg traumatisierten Vater, der nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft als Dorfpfarrer den Sohn in Angst und Schrecken versetzte und zum Stotterer und eben Schweiger werden ließ.

Gleich die erste Erzählung des Bandes, „Die Jerusalemer Krawatte“, erzählt nun davon, wie der Autor, kurz nach Erscheinen dieser Erzählung überraschend von seinem identitätsprägenden Konflikt mit dem Vater geheilt wurde. 1994 wird Delius zu einer israelisch-deutschen Schrift­stel­le­r:in­nen­ta­gung in Jerusalem eingeladen, einem Ort, wo er sich als Deutscher und Sohn eines Wehrmachtsoldaten erst recht Zurückhaltung auferlegt: „Als einfacher Beobachter vor den Strudeln der Geschichte fühlte ich mich angenehm überfordert und nicht kompetent für irgendwelche nützlichen Überlegungen zu dieser oder jener politischen Lage und Lösung, da sagte ich lieber gar nichts, ich durfte hier zuhören und schweigen –.“

Zusätzlich angeknackst ist Delius’Selbstvertrauen zu dieser Zeit durch den Umstand, dass seine Ehe gerade dabei ist, in die Brüche zu gehen, so „dass es doppelt absurd und arrogant gewesen wäre, als Autor über den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern zu sprechen, solange ich nicht einmal Mittel wusste, den Frieden in der eigenen Wohnung herzustellen –“.

Immerhin trägt er auf der Tagung eine Passage seiner „Weltmeister“-Erzählung vor, nämlich wie er als Kind erstmals die Geschichte von Isaaks Beinaheopferung durch seinen Vater Abraham gelesen und sich dabei umgehend voller Entsetzen mit dem vom Vater getäuschten, auf einen willkürlichen Befehl Gottes hin ums Haar ermordeten Sohn identifiziert hat.

Die Reaktion des Publikums fällt so überwältigend empathisch aus, dass die Lesung nicht nur zum überraschenden Triumph des „Stillsten“ führt. Sie setzt auch einen berührenden Heilungsprozess in Gang. Wie in allen Texten des Bandes folgt auch hier auf jeden Absatz eine Leerzeile. Diese Segmentierung des Textes zwingt zu einer Verlangsamung der Lektüre und lässt das behutsame sprachliche Tasten und Reflektieren des sich erinnernden Autors nacherleben.

Er erzählt von der Ohnmacht und Wut desjenigen, dem die Intubation die Stimme geraubt hat

Im Mittel- und Herzstück des Bandes, der titelgebenden Erzählung „Die sieben Sprachen des Schweigens“, unterstützt der formale Kniff den Eindruck einer extremen Zeitdehnung, den Gegensatz zwischen äußerer, realer Zeit und der erlebten des Ich-Erzählers. Der Zufall will es, dass Delius bei der Frühjahrs­tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2003 in Jena auf dem Weg der Teil­neh­me­r:in­nen von Schillers Gartenhaus zum „Schwarzen Bären“ neben dem frisch gebackenen Literaturnobelpreisträger Imre Kertész geht. Allenfalls zehn, fünfzehn Minuten dauert der Fußweg durch die lärmende Innenstadt. Das „Nachschreiben“ des, von wenigen Sätzen abgesehen, „Nichtgesprächs“ der beiden füllt hingegen 70 Seiten, die man nur mit angehaltenem Atem lesen kann.

Der Ich-Erzähler ist dabei ebenso sehr von Ehrfurcht gegenüber dem verehrten älteren und erschöpft wirkenden Kollegen und Holocaust-Überlebenden erfüllt, wie er sich zur Konversation verpflichtet fühlt. Aber welches Thema wäre, zumal unter diesen Umständen, geeignet? Die Frage, in welcher Weise sich die Ostdeutschen für Kertész seit dem Ende der DDR verändert haben, vielleicht? Oder die offenbar unersättliche Faszination des Publikums für das Böse und Täterfiguren? Aber würde er Kertész damit nicht prompt unabsichtlich „wieder in den KZ-Abgrund stoßen, in die Opferrolle stecken“?

Spätestens als Delius die ungeheuerliche Tatsache einfällt, dass er aufgrund einer Laune des Zufalls einen von Kertész’Nazi-Peinigern, nämlich den „Gestiefelten“ aus „Roman eines Schicksallosen“, in seiner Jugend nichtsahnend persönlich kennenlernte, ist die mentale Blockade perfekt, fällt er endgültig in einen Abgrund des Schweigens. Erst 1957 wurde der ehemalige SS-Obersturmbannführer Hermann Krumey, ein enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns bei der Deportation ungarischer Juden, in Delius’Heimatstadt Korbach festgenommen, wo er bis dahin als Drogerist Rasiermesser und Badezusätze verkauft hatte.

Für den Autor wird sein „Nichtgespräch“ mit Kertész zum Beleg dafür, wie sehr das Schweigen „der Ausgangspunkt und Angelpunkt aller Sprachen“ ist, wobei man für „Sprachen“ wohl ebenso „Kommunikation“ wie „Literatur“ einsetzen könnte. Keine Frage: Mit „Die sieben Sprachen des Schweigens“ ist Friedrich Christian Delius ein berührendes Alterswerk geglückt.

Friedrich Christian Delius: „Die sieben Sprachen des Schweigens“, Rowohlt Berlin, Berlin 2021. 192 Seiten, 20 Euro