Buch über die rot-grüne Koalition: Anfangs noch als cool bejubelt
Die wilden Jahre sind vorbei. Edgar Wolfrum bilanziert in „Rot-Grün an der Macht“ auf über 800 Seiten die Ära Schröder-Fischer.
Das Buch ist mit einem roten und einem grünen Lesebändchen versehen, das Anfangskapitel mit der Zeile „Aufbruch ins 21.Jahrhundert“ überschrieben. Eine der ersten Abbildungen zeigt, wie sich der designierte Kanzler Gerhard Schröder und sein künftiger Außenminister Joschka Fischer am 20. Oktober 1998 zuprosten, Fotounterzeile: „Das Lachen vor dem Sturm: Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags wird in der nordrhein-westfälischen Landesvertretung angestoßen“.
Ein Orkan sollte tatsächlich schon bald über die erste linke Koalitionsregierung der Bundesrepublik hereinbrechen. Nach 131 Tagen ging mit dem Finanzminister und SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine ein Teil der SPD-Linken von Bord. Und ebenfalls im März 1999 stand der erste „humanitäre Kriegseinsatz“ unter Beteiligung der Bundeswehr nach 1945 auf dem Programm, zum Schutze der kosovarisch-albanischen Minderheit im damals serbisch dominierten Jugoslawien.
Der Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum erzählt davon in seinem voluminösen Werk „Rot-Grün an der Macht“ (C. H. Beck, München 2013). Mit welch großen Hoffnungen und – mitunter irrational erscheinenden – Erwartungen Rot-Grün im Jahre 1998 startete und sich konfrontiert sah. Die Regierungen Helmut Kohls hatten von 1982 und 1998 etwas hinterlassen, das Wolfrum mit dem in den 90ern häufig benutzten Wort „Reformstau“ kennzeichnet.
Eine andere, eigenverantwortlichere Rolle
Die Bundesrepublik war von den Auswirkungen ökonomischer Globalisierung und digitaler Revolution erfasst worden. Die Arbeitslosigkeit bewegte sich (nach der Deutschen Einheit) auf Rekordhöhe, Betriebe drohten ihre Produktionsstandorte ins Ausland zu verlagern. Das Ende des Kalten Krieges brachte für die neue Bundesrepublik eine andere, eigenverantwortlichere Rolle in der Außenpolitik mit sich.
Und innenpolitisch waren die Rechte von Minderheiten und war vor allem die Integration der Millionen Migranten ungeklärt. Die ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur hinkte dem möglichen Entwicklungsstand um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinterher.
Die erste rot-grüne Bundesregierung stand also vor riesigen Herausforderungen. Dabei war die größte vielleicht jene, wie Joschka Fischer es formulierte und wofür er als authentische Person einstand, die aus der Neuen Linken und 68 kommenden und in den Grünen aufgegangenen Bewegungen mit der alten Sozialdemokratie zu verbinden, also einen Konsens zwischen Arbeiter- und neuer Demokratie- und Umweltbewegung zu suchen, um ein gemeinsames solidarisches Regierungshandeln überhaupt zu ermöglichen.
Lafontaine scheiterte am Anfang
Oskar Lafontaine scheiterte am Anfang dieses Bündnisses, und dies wie Wolfrum meint, nicht weil er generell die falsche Politik verfolgte und deswegen Medien und Wirtschaft gegen ihn intervenierten. Nein, weil Lafontaine, so Wolfrum, nicht in der Lage gewesen sei, konsensuale Prozesse zu verfolgen, auf Kompromisse in seiner Umgebung (Partei und Ministerium) hinzuarbeiten, ohne die die Steuerung eines komplexen Staats- und Gesellschaftsgebildes undenkbar erscheint.
Wolfrums Kritik an Lafontaines mangelndem Demokratie- und Kommunikationsverständnis mag nicht sonderlich originell klingen, dürfte aber doch der Schlüssel zur Beantwortung der Frage sein, warum Lafontaine als Finanzminister und SPD-Chef für seine finanzpolitischen Regulationsmodelle kaum Unterstützung bekam. Nicht von der Mehrheit der eigenen Partei, nicht von der Gesellschaft und schon gar nicht von den medialen Meinungsmachern der Republik.
Dies scheint jedenfalls plausibler, als bei der 1998/99 relativ offenen wirtschaftlichen Situation – Banken und Neue Märkte boomten, waren noch nicht gecrasht – an eine zentrale Verschwörung aus Wirtschaft und Politik zu glauben, wie dies der von Lafontaine und Sara Wagenknecht heute gelenkte dogmatische Flügel des Parteienkonglomerats PDS/WASG/Die Linke gerne tut.
Gesetzlich durchgesetze Definition
Ein wichtiges Projekt der rot-grün geführten Bundesregierung war auch die Reform des bis dahin völkisch definierten deutschen Staatsbürgerrechts. Die neue Rechtsprechung trat zum 1. Januar 2000 in Kraft und ergänzte das auf Abstammung beruhende Staatsbürgerschaftsrecht (Jus sanguinis) um Elemente des Geburtsortsprinzips (Jus soli). Das Gesetz erleichterte fortan auch die Einbürgerung dauerhaft in Deutschland lebender Migranten und beendete deren lange betriebene systematische Diskriminierung.
Bei Wolfrum wird die gesetzlich durchgesetzte Definition Deutschlands als offener Gesellschaft nur sehr knapp behandelt. Tatsächlich beendete Rot-Grün damit aber per Gesetz die von der Kohl-CDU bis ins Jahr 1998 geschürte rassistische Zwangsvorstellung von einer ethnisch homogenen deutschen Nation.
Gerade im Vereinigungsprozess von DDR und Bundesrepublik hatten sich faschistische Gruppierungen an institutionellem Rassismus und volksdeutschem Nationalismus kräftig nähren können. Eine Vergiftung des sozialen Klimas und mörderische Anschläge gegen Minderheiten waren die Folge. Und natürlich, dass man Ursachen und Folgen erst mit Zeitverzögerung erkannte. Schlimmstes Beispiel: die Terrorgruppe NSU.
Verengung der Debatten
Die Fixierung auf einen überwiegend ökonomisch gedachten und staatlich adressierten Gerechtigkeitsbegriff hat im Zuge von Bankencrash und Eurokrise zu einer extremen Verengung der Debatten geführt und dies schlägt sich auch in der Darstellung Wolfrums nieder. Dabei erleben die Grünen heute, nach der Abwendung von der erfolgreichen Ära Joschka Fischers, was es bedeutet, wenn man ebenfalls das Bad in einer weitgehend positionslosen Mitte sucht und vermeintliche „Haupt-“ (Verteilungskampf) wieder die „Nebenwidersprüche“ (Lebensform) überlagern.
Der Atom-CDU und Angela Merkel fallen nicht die Haare aus, wenn sie aus bloßem Macht- und Gewinnstreben nach Fukushima und verlorener Baden-Württemberg-Wahl die Seite wechseln. Und die Wähler scheinen schnell zu vergessen, wer sich am Ausbau der Atomenergie jahrzehntelang bereicherte und was dies Natur und Gesellschaft noch kosten wird. Aber natürlich kann man die opportunistische Wandlungsfähigkeit von Frau Merkel auch als demokratische Anpassungsstärke an den veränderten Wählerwillen verstehen.
Die Zeiten, in denen ein Joschka Fischer auf einer richtigen, aber unpopulären Position beharrte und dafür Amt und Gesundheit auf dem Grünen-Parteitag 1999 in Bielefeld riskierte, scheinen viel länger als 14 Jahre zurückzuliegen. „War Rot-Grün 1998 noch als cool bejubelt worden“, schreibt Historiker Wolfrum, „so fanden es viele nach sieben Jahren geradezu degoutant, ein gutes Wort über diese Regierung zu äußern.“
Geste der prinzipiellen Opposition
Die heutige Schwäche des linken Parteienlagers hat viel mit dieser Feststellung Wolfrums zu tun. Die vereinigte Linke übt sich wieder lieber in der Geste der prinzipiellen Opposition, als Verantwortung für Dinge zu übernehmen, die getan werden müssen.
So konnte Westerwelle außenpolitisch die Westbindung riskieren und im Falle Libyens mit den Diktaturen Russland und China gehen. Die Kritik der Opposition blieb verhalten. Die Linkspartei und Gysi möchten nach wie vor die Nato auflösen. Einfach so. Wie man mit Pazifismus den Assads oder al-Qaidas dieser Welt beikommen soll, es bleibt sein und so manch grünen Ströbeles Geheimnis. Assad ist derzeit für über 100.000 Tote in Syrien verantwortlich. Was ist hierzulande die Reaktion?
Parteienübergreifend scheint man im Wahlkampf zu hoffen, der Giftgasangriff möge sich nicht Assad zurechnen lassen. Nur, dürfte er denn dann weiter das Volk ungestört massakrieren? Syrien hat über das Mittelmeer eine EU-Außengrenze. Aber bei deutschnationaler Schrumpfperspektive lässt sich dies kaum erkennen, von Empathie für die Opfer ganz zu schweigen.
Rot-Grün hat mit den Regierungsjahren seine Unschuld verloren. Das stimmt. Doch die jetzige Opposition hatte nie eine, auch wenn sie jetzt ganz anders tut und nicht zuletzt deswegen die Wahlen verlieren wird. Das Rad lässt sich nicht zurückdrehen. Und so wird das nächste dicke Buch zur Bilanzierung einer Ära wahrscheinlich mit schwarz-gelben Lesebändchen ausgestattet sein. Und das danach dann wohl wieder mit schwarz-roten.
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