Buch über die Boomer: Generation Plauderton
Heinz Bude skizziert die Babyboomer, die nun in Rente gehen. Das Generationsbuch hat Schwächen – aber auch ein paar funkelnde Ideen.
Die Boomer sind die erste Generation, in der Burnout und Depression zum Massenphänomen wurden. Beides sind Kollateralschäden der Doktrin, sich selbst zu verwirklichen und ein einmaliges Individuum mit vollumfänglichem Glücksanspruch zu werden. Das war ein Effekt des Übergangs von der Fabrik- zur Wissensgesellschaft, der Kollektiv- zur Ichgesellschaft und ganz schön anstrengend.
Die Boomer, folgt man dem Soziologen Heinz Bude (Jahrgang 1954), hatten es nicht so mit Ernst und Pathos. Die großen Befreiungserzählungen waren in den späten 1970er und 1980er Jahren vorbei. Angesichts von Aids und Tschernobyl kultivierte diese (politische) Generation den Gestus des Durchwurschtelns und fasste später eine innige Zuneigung zu Angela Merkel, der Königin des Pragmatismus.
Wenn ein Babyboomer wie Bude über die Generation der Babyboomer, also die heute 60- bis 70-Jährigen schreibt, liegen unvermeidlich Fallen im Weg. Die Selbsthistorisierung hat zwangsläufig blinde Flecken. Die Distanz, die Historisierung braucht, kann nicht haben, wer in Deutungskämpfen steckt, auch wenn die bei den Boomern nicht sonderlich dramatisch sind. Die Boomer haben, anders als die 68er, keine Renegaten hervorgebracht, die die eigenen Irrtümer sezierten.
Heinz Bude: „Abschied von den Boomern“. Hanser Verlag, München 2024, 144 Seiten, 22 Euro
Zum Renegaten gehört der Wahrheitsanspruch – und den haben die jüngeren Geschwister der 68er schon früh mit Ironie pulverisiert. Budes Boomer lernten in Schule und Universität, dass es immer zu viele von ihnen gab, sie besetzten in den 80er Jahren Häuser und lasen Merve-Bücher. In den 90ern fanden sie den Neoliberalismus nicht so übel. Heute schauen sie als saturierte Turnschuhe-Rentner im Eigenheim gefasst dem Ende entgegen, das am Horizont zu ahnen ist.
Heinz Bude: „Abschied von den Boomern“. Hanser Verlag, München 2024, 144 Seiten, 22 Euro
Peergroup als Generation
Mit diesem Bild tappt Bude in eine zweite, vermeidbare Falle des Generationengenres. Sie besteht in einem rhetorischen Kniff. Man rechnet die eigene Peergroup (das akademische Milieu) zur Generation hoch und lässt weg, was nicht passt. Mit ungefähr 60 Jahren, so Bude, sind die Boomer in ihrer „Prominenzphase“, in der man „als öffentliche Person eine gewisse Bedeutung beanspruchen kann“.
Das mag für Politiker, CEOs oder Professoren so sein – 60-jährige Lehrerinnen und Busfahrer, Bauern und Erzieherinnen dürfen solche Passagen mit einer gewissen Verblüffung lesen.
„Seiner Klasse kann man mit Energie und Geschick vielleicht entkommen, seiner Generation nicht“, so Bude. Dieses Wortgeklingel radiert aus, dass Generation keine harte Kategorie wie Klasse, Ethnie oder Geschlecht ist, sondern etwas Vages hat. Generationen sind wissenschaftlich gesehen windige Phänomene.
Der Soziologe Martin Schröder hat versucht, die Differenzen zwischen den Generationen im Verhältnis zu Arbeit, Sex, Politik etc. empirisch nachzuweisen – und kam zu dem Ergebnis, dass Boomer und Millennials eher Fiktionen sind, die geglaubt werden, weil sie einleuchtend klingen.
Generation statt Klasse
Bei Bude überblendet der Generationenbegriff den Klassenbegriff – das führt zu einem bonbonfarbenem Bild der sozialen Lage der Boomer, die „mehrheitlich im schuldenfreien Eigentum, oft mit viel Platz und entsprechend großer Zufriedenheit“ wohnen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Denn knapp die Hälfte wohnt zur Miete und wird ab 2030 mit einer Rente von 800 Euro auskommen müssen. Budes gemütliches Bild einer Wohlstandgeneration, bar aller materiellen Sorgen, steht empirisch auf äußerst wackeligen Füßen.
Auf die Gefahr hin, beckmesserisch zu wirken: Holger Meins war nicht der erste RAF-Tote. Dass Fritz Bauer 1979 über die „Holocaust“-TV-Serie diskutiert haben soll, ist unwahrscheinlich, weil er 1968 starb.
Wo bleibt das Positive? Vielleicht sollten wir diesen Text nicht an Empirie messen. Man sollte ihn eher als eine mit Zahlen angereicherte, geistreiche Erfahrungsprosa lesen, in der die blitzende Sentenz mehr zählt als die Fakten.
Das klingt so: „Viele Boomer mit einem Hochschulabschluss an einer westdeutschen Universität erinnern sich mit dem,Atomkraft Nein danke'-Aufkleber an das Sausen der Waschmaschine in der WG, an eine Susanne, die mit einem Follow-me-Lächeln am VW-Kleinbus lehnt, und an die Suhrkamp-Bücher im Billy-Regal, in denen irgendwo die Wahrheit döst.“
Westdeutsche Männer
Bude meidet zudem einen typischen Fehler der Generationsprosa – die Verkürzung auf westdeutsche Männer. Die Boomerinnen profitierten von dem Aufstieg durch Bildung in den 70er Jahren spektakulärer als die Männer. Die Ost-Boomer tauchen als eine Art verzerrter Spiegel ihres westlichen Pendants auf, als Generation, die in der DDR von der Gründergeneration Honecker &Co bis zum Ende von der Macht ferngehalten wurde.
„Auf beiden Seiten der Mauer nahmen die Boomer hin, was nicht zu ändern war. Im Osten glaubten sie weder an den Sozialismus noch an seinen Untergang, im Westen weder an den Kapitalismus noch an dessen Überwindung.“ Nach 1989 schüttelten beide den Kopf übereinander. Die West-Boomer wunderten sich über eine Gesellschaft ohne „Psychoanalyse und Pizza“, die Ostler über Paartherapie.
„Abschied von den Boomern“ ist keine soziologische Studie. Zu sich kommt der Text nicht durch stringente Argumentation, sondern durch assoziatives Schlendern und einen melancholischen Plauderton. Zieht man die Verengung auf die Akademiker ab, hat der Text etwas Funkelndes.
Vielleicht sollten wir Generationen nicht als faktenbasierte Kategorien verstehen – sondern als Geschichten, die wir uns erzählen, um in dem Wimmelbild Gesellschaft nicht völlig die Orientierung zu verlieren. Bude liefert, sieht man über die genretypische Hybris hinweg, eine mitunter elegante Erzählung über die Jahre, die wir kannten.
Heinz Bude ist mit seinem Buch „Abschied von den Boomern“ auch am 13.02. im taz Talk zu Gast.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit