Buch über chinesisches Denken: Wie China diskutiert
Wer wissen will, wie China diskutiert, wird hier fündig: ein Sinologe und ein Journalist haben Texte chinesischer Denker in einem Band vereinigt.
Im Jahr 134 v. Chr. traf Kaiser Wu der Han-Dynastie eine weitreichende Entscheidung. Auf der Suche nach einer Staatsideologie berief er die führenden Köpfe seiner Zeit zur Beratung in die Hauptstadt. Aus diesem Wettstreit der Geister ging der Konfuzianer Dong Zhongshu mit seiner Vision einer Kulturgemeinschaft von Himmels Gnaden als Sieger hervor.
Mit dieser Rückbesinnung auf das Gedankengut des Konfuzius grenzte sich Kaiser Wu gegen die vom Huang-Lao-Daoismus geprägte Laisser-faire-Politik seiner Vorgänger sowie von der auf Effizienz und Kontrolle setzenden legalistischen Staatskunst der vorangehenden Qin-Dynastie ab. Es war die Geburtsstunde Chinas als Kulturnation.
Die in dem Buch „Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft“ versammelten Aufsätze von führenden zeitgenössischen chinesischen Intellektuellen wirken wie eine Wiederholung dieses Wettbewerbes der klügsten Geister um eine Neuorientierung des Landes. Diesmal stehen sich Liberale, Kommunisten und Konfuzianer gegenüber.
Daniel Leese/Ming Shi (Hg.): „Chinesisches Denken der Gegenwart. Schlüsseltexte zu Politik und Gesellschaft“. C.H. Beck, München 2023, 640 Seiten, 29,90 Euro
Diese drei Grundpositionen verbinden sich mit unterschiedlichen historischen Perspektiven. Die Liberalen wollen das Erbe von dreißig Jahren wirtschaftlicher Öffnung durch eine konstitutionelle Demokratie sichern. Die Kommunisten sehen die Partei als Bewahrer der seit den Opiumkriegen bedrohten nationalen Souveränität. Die Konfuzianer wiederum greifen auf den oben erwähnten zweitausend Jahre alten Gedanken der kulturellen Einheit zurück, den es in einer durch die westliche Moderne geprägten Welt zu behaupten gelte.
Das moderne China als multiethnische Nation
Das Herausgeberteam Daniel Leese und Shi Ming präsentiert diese konfligierenden Positionen anhand von vier Themenbereichen in 21 zwischen 2005 und 2020 entstandenen Beiträgen. Im ersten Themenbereich zum chinesischen Selbstverständnis liegt der Fokus auf dem Status des modernen China als multiethnischer Nation. Was verbindet eigentlich diese Ethnien zu einer Einheit? Und wie steht es um das Verhältnis dieser modernen chinesischen Nation zum chinesischen Reich der Vergangenheit?
Der zweite Themenbereich zu Staatsdenken und Herrschaftslegitimation wartet mit überraschenden Positionen auf: Während Gan Yang für eine Verschmelzung der drei Traditionen Liberalismus, Kommunismus und Konfuzianismus plädiert, sieht Wang Hui in der konstitutionellen Demokratie die Fortführung der maoistischen Massenlinie. Jiang Shigong wiederum betont erst die harmonisch inklusive Natur des Konfuzianismus, um dann die Bedeutung des revolutionären Kampfes zur Erlangung von Autonomie hervorzuheben.
Das Plädoyer für eine politische Liberalisierung ist am überzeugendsten bei der Auseinandersetzung mit der ländlichen Modernisierung im dritten Thementeil. Wie, so fragt Qin Hui, sollen die Bauern vernünftig wirtschaften, wenn grundlegende Eigentumsfragen ungeklärt bleiben?
Im vierten Themenbereich zur Zukunft Chinas klaffen die Meinungen stark auseinander. Der eindringliche Appell zur Fortführung der Reformen durch Hu Shuli steht neben einer von Song Shaopeng vorgetragenen feministischen Kapitalismuskritik.
Auf die Einlassungen zur Überlegenheit der konfuzianischen Regierungskunst durch Jiang Qing folgt die technologische Zukunftsvision einer algorithmischen Verwaltung von Yu Qingsong. Wie eine Antwort auf die Diskussion von Stärken und Schwächen des chinesischen Systems durch Fang Ning wirkt die von Xu Zhangrong vorgetragene Abrechnung mit der gegenwärtigen Regierung.
Verdienstvolle Arbeit
Es ist das große Verdienst der beiden Herausgeber, dass diese unterschiedlichen Positionen für den deutschen Leser verständlich präsentiert werden. Die Übersetzungen sind flüssig und durch kurze, kenntnisreiche Fußnoten ergänzt.
Die Einleitung gibt Orientierung zum Stand der innerchinesischen Debatte, das Nachwort zur Rolle des chinesischen Intellektuellen in der Geschichte vermittelt ein Verständnis für die Haltung der chinesischen Autoren. Zudem wird in jeden Teilbereich sachkundig eingeführt. Auch eine Auswahlbiografie und Hinweise zu den Originalquellen fehlen nicht.
Dabei muss man mit den von den Herausgebern vertretenen Ansichten nicht übereinstimmen. Ist der stark ausgehöhlte Kommunismus wirklich einflussreicher als der wiederentdeckte Konfuzianismus, wie Leese behauptet? Sollte man bei der historischen Herleitung der Rolle des Intellektuellen nicht eher bei den hundert Schulen zur Zeit der Streitenden Reiche anfangen als in der konfuzianisch geprägten Han-Zeit, wie dies Shi Ming tut?
Durch Auswahl, Übersetzung und Präsentation der chinesischen Quellen ermöglichen die Herausgeber erst eine Diskussion derartiger Fragen. Es ist zu hoffen, dass dies nicht das letzte Projekt dieses Gespannes sein wird.
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