Buch über Pionier der Sexualforschung: Ein sicherer Ort für Schwule

Kampf gegen „Homosexuellenparagraf“: Rainer Herrn erzählt die Geschichte des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld und seines Instituts.

Gruppenbild von kostümierten Personen, Schwarzweißfoto

Kostümfest im Institut Hirschfelds (2. v. r.) Foto: Archiv der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V., Berlin

Schon im deutschen Kaiserreich kämpfte Magnus Hirschfeld gegen den Paragrafen 175, der gleichgeschlechtliche Beziehungen von Männern unter Strafe stellte. Nach dem Ersten Weltkrieg gründete der Arzt in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft. Die Geschichte dieser „beispiellosen Institution, die wie kaum eine zweite den liberalen Geist der Weimarer Zeit repräsentierte“, wie es im Klappentext zu Recht heißt, hat jetzt Rainer Herrn aufgearbeitet. Der Autor arbeitet als Medizinhistoriker an der Charité.

Der etwas unverständliche Buchtitel „Der Liebe und dem Leid“ bezieht sich auf die lateinische Inschrift „amori et dolori sacrum“, die an der Fassade des Gebäudes in der Nähe des Berliner Tiergartens angebracht war. Hirschfeld verstand die Einrichtung als „Forschungs-, Lehr-, Heil- und Zufluchtsstätte“. Sie sollte der wissenschaftlichen Untersuchung des „menschlichen Liebeslebens“ in all ihren Facetten, in „biologischer, medizinischer, ethnologischer, kultureller und forensischer Hinsicht“ dienen.

Eine umfangreiche Bibliothek, vielfältige Sammlungen, Forschungsprojekte, Beratungs- und Therapieangebote lockten Patienten und Besucherinnen aus der ganzen Welt an. Menschen aller Schichten konnten sich vor Ort über Methoden der Empfängnisverhütung oder den Schutz vor Geschlechtskrankheiten informieren.

Die besonders erfolgreichen sogenannten Frageabende, für die nur ein geringes Eintrittsgeld verlangt wurde, richteten sich gezielt an ein breiteres Publikum aus dem Arbeitermilieu.

Rainer Herrn: „Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 680 Seiten, 36 Euro

Institut wurde privat finanziert

Die finanziellen Ressourcen stammten weitgehend aus dem Privatvermögen des Gründers. Nach der staatlichen Anerkennung der Magnus-Hirschfeld-Stiftung waren dies vor allem Zinserträge, die allerdings durch die galoppierende Inflation größtenteils aufgefressen wurden.

Bis zur Schließung im Jahr 1933 hat Hirschfeld das Institut weitgehend aus eigener Tasche finanziert. Er hielt lukrative Vorträge, verfasste Gutachten für Strafprozesse. Das Institut vertrieb Publikationen zur Sexualaufklärung, eine andere Einnahmequelle waren medizinische Behandlungen.

Zeitweise gab es Kooperationen mit der Pharmaindustrie, Verbindungen bestanden anfangs vor allem zum Chemiekonzern Bayer, der schon damals an der Entwicklung von Medikamenten zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen arbeitete. Später produzierten Hirschfeld und sein Team in Zusammenarbeit mit kleineren Herstellern sogar eigene Potenzmittel.

Das Institut war nie eine rein wissenschaftliche Einrichtung. Es diente auch als sicherer Ort für vom rigiden Sexualstrafrecht bedrohte Homo- und Transsexuelle, und nicht zuletzt war es eine politische Schaltzentrale. „Aktionsausschüsse“ und Komitees starteten Kampagnen gegen das Verbot der Abtreibung und homosexueller Kontakte.

Hirschfeld, der selbst schwul war und lebte, entwickelte schon früh seine Theorie der „sexuellen Zwischenstufen“. Damit wollte er die Vielfalt sexueller Lebensweisen dokumentieren – ein wegweisender Ansatz, der heutige Queerdebatten in der Geschlechterforschung teils vorwegnahm.

Gerichtet gegen die Psychoanalyse

Hirschfeld wollte vor allem belegen, dass Homosexualität angeboren sei. Mit einer biologistischen, gegen die von ihm abgelehnte Psychoanalyse gerichteten Argumentation warb er für die Abschaffung des Paragrafen 175. Rainer Herrns Buch dokumentiert in diesem Zusammenhang irritierende Details. So gab es im Institut Versuche, Homosexuelle zu kastrieren oder ihre sexuelle Orientierung durch die Implantation von Hoden zu verändern.

Das erinnert an menschenverachtende medizinische Experimente der Nazizeit – und ist nur im zeitgenössischen Kontext ansatzweise nachvollziehbar. An der Eugenik orientierte Konzepte waren in den 1920er Jahren auch in linken und liberalen Kreisen breit akzeptiert.

„Unser retrospektiver Blick“, zitiert Herrn den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger, „ist ein Privileg“, doch sollte „kein billiger Nutzen aus der Droge des nachträglichen Besserwissens gezogen werden.“

Politisch unterstützt wurde Hirschfeld vor allem von sozialdemokratischen Abgeordneten und Ministerialbeamten. Die Gegner des Instituts standen im rechtsnationalen Lager oder waren Mitglieder des katholischen, besonders sexualfeindlichen Zentrums.

Schließung in Nazi-Deutschland

Die Einrichtung war ständigen öffentlichen Angriffen ausgesetzt, Hirschfeld galt als „jüdischer“ Propagandist und avancierte zum stimmigen Feindbild der stärker werdenden Nationalsozialisten. Nach der Machtübernahme der NSDAP wurde das Institut sofort geschlossen, seine Räume von rechtsradikalen studentischen Sturmtrupps geplündert.

Die umfangreiche Bibliothek ging bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Flammen auf. Viele, vor allem jüdische Mitarbeiter flohen ins Ausland, sie wurden verfolgt und einige später in Konzentrationslagern ermordet. Hirschfeld selbst starb 1935 an seinem 67. Geburtstag in Nizza im französischen Exil.

Die deutsche Sexualwissenschaft brauchte lange, um sich von der Zerschlagung der innovativen Forschungseinrichtung zu erholen. Bis heute ist das Fachgebiet nicht selbstverständlich in die medizinischen Fakultäten integriert. Magnus Hirschfeld hatte weit über den Tod hinaus nachhaltigen Einfluss auf internationale Fachkreise.

An seinen empirischen Methoden orientierte sich zum Beispiel der US-amerikanische Sexualforscher Alfred Kinsey. Hirschfelds Namen trägt heute eine sexualwissenschaftliche Gesellschaft; zudem wurde eine Promenade am Berliner Spreeufer, in der Nähe des im Krieg zerstörten Institutsgebäudes, nach ihm benannt.

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