Buch über Mara-Gangs in Zentralamerika: Leben eines Auftragskillers
Die Gewalt der Maras vertreibt Familien. „Man nannte ihn El Niño de Hollywood“ der Brüdern Oscar und Juan José Martínez erzählt, wer die Maras sind.
Fragt man Geflüchtete aus Honduras oder El Salvador, warum sie ihre Heimat verlassen haben, bekommt man häufig dieselbe Antwort: „Wegen den Maras.“ Väter gehen mit ihren Söhnen, weil sie Angst haben, dass ihre Kinder von den kriminellen Jugendbanden rekrutiert oder getötet werden.
Ganze Familien nehmen den beschwerlichen Weg Richtung Mexiko oder USA auf sich, weil sie die alltägliche Gewalt der Maras in ihren Stadtvierteln nicht mehr ertragen. Wer aber sind diese jungen Männer, deren Gesichter oft von Tattoos gezeichnet sind?
Diese Jugendlichen, die keine Skrupel zu kennen scheinen? Wer sind die „Mara Salvatrucha 13“ und die „Barrio 18“, die sich gegenseitig in mittelamerikanischen Gefängnissen bis aufs Blut bekämpfen?
Die Brüder Oscar und Juan José Martínez geben eine Antwort. Fast drei Jahre lang besuchten die Autoren „El Niño de Hollywood“, wie Miguel Ángel Tobar genannt wurde, in seinem Haus in der salvadorianischen Provinz. Besser gesagt: in seinem Gefängnis. Denn der Mann, der in seinem kurzen Leben über 50 Menschen ermordete, hat gegen seine „Homies“, seine ehemaligen Kumpels der Mara Salvatrucha 13 ausgesagt.
Oscar Martinez/Juan José Martinez: „Man nannte ihn El Niño de Hollywood. Leben und Sterben eines Killers der Mara Salvatrucha“. Übersetzt von Hans-Joachim Hartstein. Kunstmann Verlag, München 2019. 320 Seiten, 25 Euro
Deshalb befand er sich in einem Zeugenschutzprogramm und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens mit seiner 17-jährigen Freundin und der kleinen Tochter auf einem bewachten Grundstück. Gegenüber lag eine Dienststelle der Polizei. Jeder Schritt außerhalb der Parzelle konnte für den Mittzwanziger tödlich sein. Tatsächlich stirbt Tobar schließlich den Tod eines Verräters. Er wird von Killern der Mara Salvatrucha 13, der MS13, erschossen.
Der Blick eines Mörders
Obwohl die Autoren dieses Ende eines elendigen Lebens gleich zu Anfang vorwegnehmen, bleibt ihr Buch „Man nannte ihn El Niño de Hollywood“ durchgehend spannend. Atmosphärisch und detailliert beschreiben sie entlang ihres Protagonisten, wie sich die Maras zu den gefährlichsten Banden entwickeln konnten.
Neben Tobar treffen sie viele weitere Menschen, die in diesem mörderischen Szenario eine Rolle spielen. Etwa mit dem Polizisten Gil Pineda, der an die hundert Killer verhaftet hat. Auch El Niño. „Seit ich ihn kenne, hat der den Blick eines Mörders“, sagt der Inspektor, der selbst gerne zuschlägt, wenn es sein muss.
Dieser von Gewalt geprägte Alltag in einem Land, das zu den gefährlichsten weltweit zählt, lässt Leute wie Tobar zu dem werden, was sie wurden. Um das zu verstehen, stellen die Autoren das Elend ihres Protagonisten in den historischen Kontext El Salvadors.
Sie schreiben über die Ausbeutung von Landarbeitern auf den Kaffeeplantagen Anfang des 20. Jahrhunderts, über die Politik der harten Hand gegen die Jugendlichen sowie den früheren Bürgerkrieg zwischen der FMLN-Guerilla und dem US-unterstützten Militärregime samt dessen Todesschwadronen. Und über die vielen Landsleute, die wegen dieses Krieges in die Vereinigten Staaten migriert sind.
Dort, in Los Angeles, beginnt auch die Geschichte, die Tobars Leben prägen sollte, obwohl er selbst nie in der Stadt war und „Hollywood“ immer „Jaliwú“ aussprach. Denn in den Bandenkriegen in der kalifornischen Metropole entstanden die Maras.
Die Salvadorianer konnten sich in den Kämpfen durchsetzen. „Sie waren aus dem Krieg gekommen und hatten keinerlei Bedenken, sich in einen anderen zu stürzen“, schreiben die Autoren und zitieren einen Marero, der die 1980er Jahre miterlebt hat: „Die da oben in Kalifornien dachten, sie wüssten, was Gewalt ist. Fuck, no, wir haben ihnen beigebracht, was Gewalt ist.“
Krebse für die Mittagssuppe
Die Maras wandten Methoden an, die bereits Eliteeinheiten des US-Präsidenten Ronald Reagan in El Salvador eingesetzt hatten, erklären die Brüder Martínez. Sie verschweigen aber nicht, dass so mancher sein blutiges Handwerk auch bei der Guerilla gelernt hatte. Viele Salvadorianer, die aus den USA abgeschoben wurden, brachten die Marakultur später in ihre alte mittelamerikanische Heimat. Ausgespuckt von den Vereinigten Staaten, trugen sie den Krieg in den 1990ern dorthin, wo er seinen Anfang nahm.
Es ist die Zeit, in der „El Niño“ noch ein Kind ist und mit der Machete im Anblick seiner Freunde am Fluss einen Jungen killt, weil dieser Witze über ihn macht. Die Leiche lassen sie achtlos liegen und fangen weiter Krebse für die Mittagssuppe. „Sie wussten, dass niemand den Toten vermissen würde“, schreiben die Autoren. „Sie waren die Kinder von niemandem.“
Sie wurden gedemütigt, waren Brüder vergewaltigter Mädchen, Söhne von Alkoholikern, Nomaden. Abfall. Menschen, die unter diesen Umständen aufwachsen, erklären sie, hätten nur die Wahl, nichts oder ein Teil von etwas zu sein.
Es ist die Suche nach einem Zuhause, nach einer wirklichen Familie, die Jugendliche zu den Maras treibt: die Bande als Identifikation, der Krieg gegen die anderen als Sinnstiftung. Was nichts daran ändert, dass es Hintermänner gibt, die von den kriminellen Geschäften profitieren.
Man könnte sich keine kompetenteren Autoren als die Brüder Martínez für dieses Thema denken. Oscar hat auf der salvadorianischen Onlineplattform „ElFaro.net“ und in internationalen Zeitungen preisgekrönte Reportagen über die gewaltsamen Verhältnisse in seinem Land veröffentlicht. Juan José hat als Anthropologe über Jahre hinweg über das Phänomen der Banden geforscht. Sie kennen viele Miguel Ángel Tobars.
Jahre nach seinen Mord am Fluss tritt Tobar der MS13 bei. 13 Sekunden lang muss er dafür die Schläge und Fußtritte ertragen. Dann ist er einer von ihnen. Ab diesem Moment killt er für die Salvatrucha. Und er ist ein guter Mörder, wie Inspektor Pineda bestätigt: „Fast immer, wenn er getötet hat, hat er dem Opfer in den Kopf geschossen.“ Die Autoren lassen „El Niño“ von all den Morden erzählen, an denen er beteiligt war.
Etwas „Raubtierhaftes“ im Blick
Von der Prostituierten, von der er bis heute nicht weiß, warum er sie töten sollte. Oder von dem Typen, der den feindlichen „18ern“, dem Barrio 18, angehörte und Drogen und Geld dabei hatte. „Popp, popp, popp, popp … So, siehst du, aus zwei Metern direkt in die Birne, hab sogar Spritzer abgekriegt von dem Arschloch“, erzählt Miguel Ángel.
Der junge Mann hatte seine eigene Sprache, um seinen Job darzustellen. Wirft er jemand in den Brunnen, hat er ihn „zum Wassertrinken geschickt“. Begräbt er jemand auf dem Acker, tot oder lebendig, hat er ihn „zum Sternezählen hingelegt“. Und immer, wenn er seinen beiden Zuhörern erzählt, wie er jemand umbringt, macht er dieses dumpfe knallende Geräusch: popp, popp.
Ja, die Geschichte, die Oscar und Juan José Martínez erzählen, ist äußerst brutal. Sie beschreibt einen Menschen, dessen Leben im Wesentlichen daraus bestand, andere zu töten. Dennoch zeichnen die Autoren nicht nur das Bild eines skrupellosen Mörders.
Ebenso wenig versuchen sie, El Niño de Hollywood in erster Linie als Opfer der Verhältnisse darzustellen. Sie lassen Tobar selbst sprechen und schaffen mit Informationen, Sachlichkeit und beobachtender journalistischer Distanz ein Bild, das das Elend dieses Mannes ohne Mitleid zum Ausdruck bringt.
Trotzdem halten sie sich mit Einordnungen nicht zurück. Zum Beispiel, wenn sie in dem jungen Killer etwas „Raubtierhaftes“ erkennen: „Wenn es blutig wird in seinem Bericht – und es wird immer blutig –, verändern sich seine Augen, seine Haltung, sein Gesichtsausdruck.“
In anderen Momenten beschreiben sie El Niño, der in seiner Karriere auch mal „El payaso“, der Clown, hieß, als einen eingesperrten, verzweifelten und abgemagerten Mann, der auf seinem Plastikstuhl sitzt und an einem Joint zieht. Kein Tiger im Käfig, sondern einer, der darauf wartet, dass die alten Homies kommen, um ihn hinzurichten. Niemand werde ihm verzeihen, dass er die wichtigsten Männer der Mara Salvatrucha 13 ans Messer geliefert habe.
Er weiß genau, wie das läuft. Popp, popp, popp. Trotzdem will er nicht unvorbereitet sein. Neben sein Bett hat er deshalb griffbereit eine Handgranate gelegt. Sie hat ihn nicht gerettet.
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