Buch „Der Tod von Sweet Mister“: Von der Schönheit weißen Abschaums
Im ländlichen Missouri spielt Daniel Woodrells Teenager-Elend-Ballade „Der Tod von Sweet Mister“. Endlich ist der Vorgänger von „Winter's Bone“ ins Deutsche übertragen.
Darf man so schreiben, als sei das Leben, jedes Leben, schön? Auch dieses hier? Das erbärmliche Dasein des 13-jährigen Morris, genannt Shuggie oder auch „Sweet Mister“ – aber so nennt ihn nur seine Mutter Glenda.
Shuggie fungiert als Icherzähler in Daniel Woodrells bereits vor einem Jahrzehnt erschienenen und nun ins Deutsche übersetzten Roman „Der Tod von Sweet Mister“. Ähnlich wie „Winters Knochen“, jener großartige Woodrell-Roman, auf dem der ziemlich gute Film „Winter’s Bone“ basiert, der im vergangenen Jahr auch hierzulande in den Kinos lief, ist „Der Tod von Sweet Mister“ eine Coming-of-Age-Geschichte der sehr dunklen Art.
Für ein White-Trash-Melodram eine jugendliche Hauptfigur als Perspektivträger zu wählen, ist ein ungemein wirkungsvolles literarisches Verfahren. Die Perspektivlosigkeit und Schutzlosigkeit einer noch unschuldigen Person in einer völlig verrohten Umgebung spiegelt ein bedingungsloses In-die-Welt-geworfen-Sein wider.
Mit detailsensibler erzählerischer Genauigkeit malt Woodrell die Lebenswelten des vergessenen Bodensatzes der Gesellschaft aus. Doch mit Sozialkritik haben seine Romane nichts oder noch weniger als nichts zu tun; eher mit dem unerschrockenen Blick eines Hieronymus Bosch auf das Abseitige im Menschlichen. Die Ästhetik adelt in beiden Fällen den Schrecken, auch wenn Woodrell, anders als Bosch, seinen Ausgangspunkt nicht im Grotesken findet, sondern schreibend gleichsam zum Balladensänger des weißen Abschaums wird. Sein Schreiben ist geprägt von einer fast romantizistischen Haltung gegenüber den Nachtseiten des Daseins. Country noir lautet der Terminus, den der Autor selbst für sein Schreiben geprägt hat.
Rum und Cola in der Thermosflasche
Shuggie also ist 13 Jahre alt, ziemlich übergewichtig, und lebt mit seiner Mutter Glenda, die gerade mal etwas über dreißig ist, auf einem Friedhof. Dieser Friedhof liegt, wie viele Schauplätze von Daniel Woodrells Romanen, irgendwo in den Ozarks, jener gottverlassenen Gegend im südlichen Missouri, in der auch Woodrell aufwuchs und noch heute lebt. Glenda und ihr Sohn verdienen sich das Wohnen im Friedhofshäuschen mit gärtnerischen Arbeiten, die Shuggie in der Regel allein ausführt, weil seine Mutter oft unpässlich ist – geschwächt von zu viel „Tee“, wie sie die Mischung aus Rum und Cola nennt, von der sie sich größtenteils ernährt und die sie in einer Thermoskanne stets bereithält.
Glendas Alkoholismus hat einen guten Grund. Sie ist verheiratet mit Red, einem gewalttätigen Kriminellen, der Shuggie der Form halber als Sohn anerkannt hat und im Gegenzug Mutter und Kind in jeder erdenklichen Form quält. Der Junge wird von seinem drogensüchtigen Stiefvater gezwungen, Raubzüge in fremde Häuser zu unternehmen und Schwerkranken ihre Schmerzmittel zu stehlen. Glenda lässt sich von Red vergewaltigen, um ihrem Sohn Prügel zu ersparen. Denn sie liebt Shuggie über alles. „Sweet Mister“ pflegt sie ihn also zu nennen, und das Bedürfnis nach einer Zärtlichkeit, die es zwischen ihr und Red nicht gibt, lebt sie mit ihrem Sohn aus. Klar, dass das irgendwie kein Dauerzustand ist.
Der Romantitel „Der Tod von Sweet Mister“ ist metaphorisch zu verstehen. Nein, nicht Shuggie wird sterben, sondern einer, der es mehr verdient hat, aber Shuggie wird am Ende des Romans eben nicht mehr „Sweet Mister“ für seine Mutter sein, die ihn für ein ganzes Jahr verlassen wird, um mit einem neuen Mann auf einem Schiff nach Südamerika zu fahren. Dass es so weit kommen muss, ist natürlich nicht die Schuld des Jungen, der von den Erwachsenen für ihre unterschiedlichen Bedürfnisse benutzt und missbraucht wurde. Doch hat er stellvertretend für alle anderen die Konsequenzen zu tragen.
Es gibt nicht zu übersehende Parallelen zwischen dem 13-jährigen Shuggie und der 17-jährigen Ree, Hauptfigur in „Winters Knochen“, die mit furchtloser Hartnäckigkeit durch ein Martyrium geht, um ihre Familie zu retten. Der große Unterschied zwischen beiden Romanen ist, dass Ree ein Ziel hat. Sie ist kein Kind mehr, sondern weiß genau, was sie tut, als sie nachts in einem eiskalten Sumpf mit bloßen Händen nach der Leiche ihres Vaters fischt.
Der vier Jahre jüngere Shuggie dagegen ist ein Ausgelieferter. Zwar putzt er die Küche blitzblank, nachdem er sie eines Tages im Blut seines Stiefvaters getränkt vorfindet. Doch ist diese Reaktion möglicherweise dem Schockzustand zu verdanken, in dem er sich befindet. Denn anschließend ist der Junge nicht ansatzweise in der Lage, den Haushalt zu führen, während seine Mutter sich in tagelange Teilnahmslosigkeit rettet. Am Ende lässt sich nur hoffen, dass Shuggie sich eines Tages selber aus der Hoffnungslosigkeit wird retten können, in die er geboren wurde. Eine sichtbare Perspektive gibt sein Autor ihm nicht mit.
Möglicherweise ist Rees Geschichte in „Winters Knochen“, die fünf Jahre nach „Der Tod von Sweet Mister“ erschien, eine Art später Wiedergutmachung auch für Shuggie. Eine etwas hoffnungsvollere Variation auf ein allzu trauriges Teenagerlos. Dass man Shuggies Geschichte überhaupt aushält, führt wieder zurück auf die Faszination der eigenartigen literarischen Ästhetik des Abschaums, die Woodrell pflegt.
Blut- und Hirnspritzer
Woodrell auf Deutsch zu lesen allerdings bedeutet, diesen Stil noch verschärfter vorzufinden; denn der Übersetzer Peter Torberg überführt Woodrells Country noir in ein Deutsch, das so sauber ist, als sei es ebenso wie Glendas Küche von allen Blut- und Hirnspritzern gereinigt worden.
So unlösbar die Aufgabe auch sein mag, den ländlichen Südstaatenduktus adäquat in eine andere Sprache zu übertragen, so stellt sich doch die Frage, ob eine zusätzliche Stilisierung ins Überkorrekte nicht die Rezeption des Originals zu sehr verfälscht. Es sagt etwa ein Ganove zum anderen: „Wir können hier nicht rumhängen, bis es deinem Zuckerarsch gerade recht ist.“ Ein Beispiel einer hübschen rotwelschartigen Sentenz, die aber ebenso wie große Teile der übrigen wörtlichen Rede zu altmodisch wohlformuliert geraten ist.
Woodrell selbst treibt seine Elendsästhetik keineswegs so weit in die Sprache hinein. Das immer sehr richtige Deutsch, das diese Übersetzung bietet, ist in der Gesamtheit zu schön, um wahr zu sein. Zweifellos besitzt der Text einen eigenen, sehr selbstbewussten Wohlklang. Doch ist er gleichsam in der falschen Tonart gestimmt.
Daniel Woodrell: „Der Tod von Sweet Mister“. Aus dem Englischen von Peter Torberg. Liebeskind, München 2012, 191 Seiten, 16,90 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!