Buch „Das sowjetische Jahrhundert“: Das russische Chanel Nº 5
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse: Karl Schlögels „Das sowjetische Jahrhundert“ ist ein Museum der sowjetischen Zivilisation.
„Darüber müsste ich eigentlich mal schreiben, aber jetzt passt’s gerade nicht ins Thema“, dies etwa muss sich der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel (*1948) über Jahrzehnte angesichts der Dinge und Phänomene gedacht haben, die er nun in seinem neuesten Buch, auf 845 Seiten Text versammelt: „Das sowjetische Jahrhundert: Archäologie einer untergegangenen Welt“.
Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre war Schlögel in der ehemaligen Sowjetunion unentwegt unterwegs. Als Osteuropa-Historiker hat er eine Reihe berühmter Werke über Themen aus diesem Bereich geschrieben. Stets ist er dabei von Territorien und Gebäuden ausgegangen, die er selbst mehrmals besuchte. Deren Geschichte setzte er dann zu den jeweils herrschenden politischen Doktrinen in Beziehung.
Aber diesmal rückt in den Mittelpunkt, was Archäologen die „Sachkultur“ nennen: Es geht um Müll (der in der Sowjetunion ebenso wie das Klopapier fast abwesend war, der dann aber während des Schwarzmarktbooms am Ende des Imperiums die Straßen überflutete), um das Fehlen von Toiletten und die Präsenz der Aborte, um üppige Süß- und Eierspeisen in Kochbüchern und nicht nur dort, um Sanatorien im Süden, um Moskauer Haute Couture und Wohnheime für die Bevölkerung als Dauerzustand.
Ein ernsthaft nostalgisches Kapitel ist der Datscha gewidmet, die sich heute zunehmend zum Eigenheim umwandelt und früher für 60 Prozent der StadtbewohnerInnen eher eine Schrebergartenhütte inmitten eines mikroskopisch kleinen landwirtschaftlichen Betriebes war. In ihr sieht der Autor die Quelle sowohl der Krisenfestigkeit wie auch der Ineffizienz der Sowjetökonomie. Er spielt dabei vermutlich auf die Müdigkeit an, mit der unzählige Werktätige nach der Schufterei im eigenen Gemüsegarten an den Montagen ihre Berufsarbeit begannen.
Der „Homo Sovieticus“
Viele der akribischen Recherchen verblüffen, zum Beispiel zum sowjetischen Kultparfum Krasnaja Moskwa. Dieses hatte gemeinsame Väter und Vorläufer mit dem Duft Chanel N° 5. Im Kapitel „Das sowjetische Treppenhaus“ liefert Schlögel eine seiner leider etwas selteneren direkten Beschreibungen von Selbsterlebtem und begründet sie so: „Es wäre voreilig, den irritierenden Eindruck, den sowjetische Treppenhäuser bei fremden Besuchern hervorrufen, einfach zu ignorieren. Man muss diesen Eindrücken von Verwahrlosung, Gleichgültigkeit, Schmutz und Vandalismus nachgehen.“
Es scheint, als komme Schlögel aus dem Staunen nicht heraus, das ihn zum ersten Mal beschlich, als er dieses Land bereiste. Für Leute aus Nordwesteuropa und den USA, die hier während des Kalten Krieges und hinterher arbeiteten, war der Alltag bizarr und hatte einen hohen Abenteuerwert, solange er nicht ins Grauenhafte umschlug, wie in den Straflagern, deren Realität Schlögel ebenfalls schildert.
Karl Schlögel: „Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt“. C. H. Beck, 912 Seiten, 38 Euro
Dem Historiker Schlögel schwebt nicht weniger vor als ein Museum der sowjetischen Zivilisation. Dass die sowjetische Lebensweise den „Homo Sovieticus“ stärker geprägt hat als die offizielle Ideologie und noch heute nachwirkt, davon geht er aus und hebt den Mangel an privaten Rückzugsräumen und das ständige Warendefizit hervor.
Wo Lammfellmäntel helfen können
Schmerzlich fehlt in diesem Buch dazu nur ein einziger Baustein: die zumindest schon in den 70er Jahren systembildende und allgegenwärtige Korruption. Man stelle sich die Verwunderung einer deutschen Studentin vor, die damals den „Kommandanten“ ihres Leningrader Wohnheims um ein leerstehendes Einzelzimmer bitten wollte und erfuhr, der nehme für so etwas gern Lammfellmäntel. Und die Zustände im Gesundheitswesen charakterisierte das Sowjetsprichwort: „Hat man dich wirklich umsonst behandelt, dann war die ganze Behandlung umsonst.“
Sonst kann die Themenauswahl nur auf persönlichen Prioritäten beruhen. Wie eben bei Schlögels Buch, das er seiner Frau, der Publizistin Sonja Margolina, gewidmet hat. Es ist eines jener wunderbaren Büchern, in die man lesend hineinplumpst und hofft, es möge nicht enden.
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