Buch „Auf allen Vieren“ von Miranda July: Wache halten am heiligen Ort
Miranda July schreibt über eine weibliche Identitätskrise. Sie erzählt von einer Frau, die in der Lebensmitte versucht, ihre Libido zu verteidigen.
Die namenlose 45-jährige Icherzählerin dieses Romans schaut noch mal unter das Bett, auf das Bild, das sie dort verstaut hat in diesem Motelzimmer, das sie für viel Geld nach ihren Wünschen hat umgestalten lassen. Sie angelt es mit dem Fuß hervor. Und was sie dort sieht, auf diesem abstrakten Gemälde, ist – nach ihrer Interpretation – eine Frau im Herbst ihres Lebens, die, wie die Protagonistin erst jetzt erkennt, vor einem verschlossenen Höhleneingang steht.
Für die Icherzählerin ist die Sache klar: Die Frau auf dem Bild hat ihre Chancen verpasst, ihre sexuellen Tore offen zu halten. Die Höhle ist geschlossen, für immer. Das Bild ist ihr, nein, allen Frauen eine Warnung, es nicht so weit kommen zu lassen. Ein mahnendes Zeichen, wie Bibeln verteilt über alle Motels dieser Welt. So sieht sie das. In diesem Moment.
Es ist vielleicht die Schlüsselszene im neuen Roman „Auf allen Vieren“ von der US-amerikanischen Autorin, Filmemacherin und Künstlerin Miranda July. Es geht um eine Frau in der Mitte ihres Lebens, die versucht, ihre Libido gegen alle Widerstände zu verteidigen.
Für die meisten Frauen ist diese ab der zweiten Lebenshälfte von allen Seiten bedroht: vom sinkenden Östrogenspiegel, vom erschlaffenden Körper, von den eigenen Vorurteilen und Ängsten, vom Muttersein oder von festgefahrenen Beziehungen. „Wir stürzen jeden Moment von einer Klippe. In ein paar Jahren sind wir völlig andere Menschen“, sagt die Icherzählerin an einer Stelle im Buch über Frauen Mitte 40.
Miranda July: „Auf allen vieren“. Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Kiepenheuer & Witsch, 2024, 416 Seiten, 25 Euro
Recht hat sie. Am Ende des Romans wird sie wirklich ein anderer Mensch sein. Aber aus einem anderen Grund: Sie hört die Mahnung rechtzeitig. Und findet – das ist das Tolle an „Auf allen vieren“ – einen Weg aus der Misere. Dank vieler irrationaler Entscheidungen, seltsamer Umwege und eines Blicks auf die Welt, wie er wohl nur von einer Miranda July erfunden werden kann.
Flapsige Bemerkungen des Gatten
July ist eine Spezialistin für verschroben-sympathische Figuren und skurrile zwischenmenschliche Begegnungen. Selbst in der tristesten Umgebung oder dem schnödesten Alltag gelingt es ihr, eine aufregende und verstörende Welt zu entdecken. Wie zum Beispiel in ihren Spielfilmen wie „Ich und du und alle, die wir kennen“ (2005) oder „Kajillionaire“ (2020), ihren Short Storys oder ihrem Roman „Der erste fiese Typ“ (2015).
Und jetzt wieder in „Auf allen vieren“. Alles beginnt mit einer flapsigen Bemerkung des Ehemanns der Icherzählerin auf einer Party. Er teilt die Menschen in „Fahrer“ oder „Einparker“ ein. Fahrer sind diejenigen, die Dinge durchziehen und dann glücklich sind. Einparker die, die ständig Bestätigung suchen und sonst unglücklich sind. Seine Frau zählt für ihn zur zweiten Gruppe.
Tatsächlich entspricht die Selbstbeschreibung der Protagonistin eher dem Typus Einparker (und erinnert sehr an July selbst): Sie sei eine Frau, eine Künstlerin, „die in jungen Jahren auf mehreren Gebieten erfolgreich war und sehr beständig weitergearbeitet hat“. Immer in Kommunikation „mit dem Universum“. Seit Jahren sei sie nicht dazu gekommen, ihren wackelnden Arbeitstisch zu reparieren, schließlich sei sie „ständig an einem Wendepunkt“, stehe „alles kurz vor der Offenbarung“.
Kein Wunder, dass es ihr schwerfällt, ihren alltäglichen Mutter- und Ehepflichten nachzukommen. Genau das will sie jetzt ändern. Schließlich ist es nie zu spät, noch eine „Fahrerin“ zu werden.
Ein sehr kurzer Roadtrip
Für einen geplanten Besuch in New York nimmt sie nicht wie üblich das Flugzeug, sondern plant eine Autoreise. Quer durchs Land. Von ihrem Wohnort Malibu bis zur Ostküste. Sie bereitet sich minutiös vor, verabschiedet sich von Mann und Kind und reiht sich auf der Schnellstraße ein. Doch nach 20 Minuten Fahrt muss der Wagen aufgetankt werden – und das war’s dann mit dem Roadtrip. Dafür beginnt ihre eigentliche Reise.
In Monrovia, einer Kleinstadt im Los Angeles County, mietet sie sich in einem schäbigen Motel ein und beginnt eine romantische, aber sexfreie Affäre mit dem gut zehn Jahre jüngeren Hertz-Mitarbeiter Davey. Von dessen Frau Claire, die eine Karriere als Innenausstatterin anstrebt, lässt sie sich ihr Motelzimmer luxuriös umgestalten.
Es ist dieses Zimmer Nummer 321, das im Laufe des Romans zum Zentrum der sexuellen Entwicklungsreise der Mitvierzigerin wird, ihre „Höhle“, ihr selbst erschaffener „gottverdammter Mutterleib“.
Sexuelle Erweckung mit der Antiquitätenhändlerin
Hier erlebt sie ihre sexuelle Erweckung mit der um einiges älteren Antiquitätenhändlerin Audra. Hier schläft sie mit ihrer neuen Freundin Kris, nachdem sie sich mit ihrem Ehemann auf eine offene Beziehung geeinigt hat. Hier spricht sie mit der weltberühmten Popsängerin Arkanda über das Trauma, das die Geburt ihres Kindes hinterlassen hat.
Und hier ändert sich ihr Blick auf das abstrakte Bild unterm Bett. Die ältere Frau vor dem verschlossenen Höhleneingang. Die Mahnung an alle Frauen in den Vierzigern. „Plötzlich war es unmöglich, nicht zu sehen, wie kerzengerade sie aufgerichtet war“, als würde sie Wache halten vor einem „sehr wichtigen, exquisiten – beinahe heiligen – Ort“.
Die Frau auf dem Bild hat die Warnung also doch gehört. Sie steht nicht vor verschlossenen Türen. Sondern sie bewacht etwas. Ihre Sexualität. Genauso, wie es die Protagonistin des Romans schließlich tut. Stellvertretend für alle Frauen, die das Glück haben, diesen Roman lesen zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen