Brutaler Polizeieinsatz in Marokko: Strafaktion gegen eine ganze Stadt
Erstmals untersucht Marokkos Parlament polizeiliches Vorgehen: Gegen die Einwohner von Sidi Ifni, die den Hafen blockiert hatten, um auf ihr soziales Elend aufmerksam zu machen.
Marokkos König Mohammed VI. macht es sich einfach. Anstatt die schweren Vorwürfe gegen die Sondereinsatzkommandos der Polizei aufzuklären, lässt er diejenigen verfolgen, die die Brutalität der Sicherheitskräfte bei einem Einsatz in der Atlantikstadt Sidi Ifni öffentlich gemacht haben. Vor Gericht verantworten müssen sich derzeit der Chef des Al-Dschasira-Studios in Marokko, Hassan Rachid, und der Verantwortliche des marokkanischen Zentrums für Menschenrechte (CMDH) in Sidi Ifni, Brahim Sabalil. Ihnen wird "die Verbreitung falscher Nachrichten" vorgeworfen. Sowohl der panarabische Fernsehsender als auch das CMDH hatten ausführlich über die schwersten sozialen Unruhen seit Jahren berichtet, als am 7. Juni 3.000 Polizisten die Stadt Sidi Ifni im Süden Marokkos stürmten. Während al-Dschasira und CMDH von Toten berichten, bestreitet das Innenministerium dies vehement.
Jugendliche hatten zuvor mehrere Tage lang den Fischereihafen in Sidi Ifni blockiert. Sie protestierten damit gegen die unerträgliche soziale Lage in der 22.000-Einwohner-Stadt, in der die Arbeitslosigkeit mehr als 50 Prozent beträgt. Die Polizisten schlugen bei ihrem Einsatz auf alles ein, was sich bewegte. 48 Verletzte, darunter 28 Polizisten sowie 188 Festnahmen lautete die offizielle Bilanz. Al-Dschasira und CMDH berichteten nicht nur von doppelt so vielen verletzten Zivilisten, sondern auch von bis zu acht Toten.
Die Veröffentlichungen über das Vorgehen der Polizei in Sidi Ifni haben indessen die Regierung dazu gezwungen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zuzulassen. Es ist das erste Mal, dass das marokkanische Parlament einen Polizeieinsatz untersucht. Ein Blick in die marokkanische Presse zeigt, was die Bevölkerung von Sidi Ifni, das bis 1969 zu Spanien gehörte, erleiden musste. "Sie drangen mit Gewalt in unser Haus ein, sie stahlen Geld, eine Videokamera, drei Handys, einen Computer", erzählt eine Frau namens Naima Boufim auf den Seiten der Wochenzeitung al-Michaal. "Danach schlugen sie mich, brachten mich auf die Wache, wo ein Offizier seinen Untergebenen befahl, mich völlig auszuziehen und mir meine Armbänder abzunehmen."
Boufim hatte noch Glück, denn es hätte noch schlimmer kommen können. "Viele Frauen, aber auch Männer wurden nicht nur sexuell belästigt, sondern auch vergewaltigt", berichtet Mohammed am Telefon. Seinen Nachnamen möchte er aus Angst vor Verfolgung nicht preisgeben. Die Vorsitzende der Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH), Souhayr Belhassan, berichtete nach einem Marokkobesuch von "Folterfällen". Der Polizeieinsatz sei "eine kollektive Strafaktion" gegen eine ganze Stadt gewesen, heißt es in Bericht einer Delegation von Abgeordneten der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD), die Sidi Ifni wenige Tage nach den Vorfällen besuchte.
"Wir hatten keine andere Möglichkeit", verteidigt Innenminister Chakib Benmoussa dagegen das harte Vorgehen der Polizei. Die Demonstranten hätten jedwede Verhandlung verweigert, die zu einer Beendigung der Hafenblockade hätte führen können. Doch während eines Besuchs des Untersuchungsausschusses in Sidi Ifni Anfang Juli kam es erneut zu einem harten Einsatz gegen Demonstranten, die die Freilassung von sechs Personen forderten, die seit Anfang Juni in Haft sind.
Bereits vor drei Jahren gab es in der Atlantikstadt Großdemonstrationen gegen die Marginalisierung der von Berbern, einer ethnischen Minderheit mit eigener Sprache, bewohnten Gegend. Damals handelte die Regierung einen regionalen Strukturplan aus. Bis heute wurde dieser nicht umgesetzt. Statt den gefangenen Fisch zumindest teilweise in Sidi Ifni zu verarbeiten, wie die Bewohner fordern, wird er nach wie vor in die großen Fischfabriken des Nordens gekarrt.
"Die Behörden sollten versuchen, die Wahrheit über den völlig überzogenen Polizeieinsatz herauszufinden", fordert die Nordafrika-Sprecherin von Human Rights Watch, Sarah Leah Whitson. "Dazu sollten sie eine breite öffentliche Diskussion zulassen, anstatt mit repressiven Gesetzen auf diejenigen zu schießen, die die Nachricht überbringen." Offiziell heißt es nun, der Abschlussbericht der Untersuchungskommission werde "in den nächsten Tagen" vorgelegt.
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