■ Briefe eines Eingeschlossenen – Fünfter Brief: Die heimliche Angst vor den eigenen Kindern
Niemand kann ihm helfen: Dietmar sitzt schon seit zwei Wochen im Keller seines Hauses fest, umgeben von teurem Wein, Marmelade und anderem Eingemachten. Nur seine Briefe dringen nach draußen ...
Liebe Vanessa, lieber Stefan,
ich bin's, Euer Papa. Ich sitze seit zwei Wochen in dem Kellerraum, den ihr nie betreten durftet, weil ich Angst hatte, Ihr würdet meine kostbaren Flaschen zerbrechen. Sie sind mir noch immer kostbar. Sie versorgen mich mit der Flüssigkeit, die ich zum Überleben brauche. Außerdem scheinen sie wie ein Wahrheitselixier zu wirken. Ihr braucht so etwas nicht, Ihr sagt immer die Wahrheit. Na, fast immer.
In vinum veritas ... Vanessa, Du hattest Latein in der Schule ... kannst Du das Deinem Bruder übersetzen? Das soll keine Prüfung sein. Ich will Euch nicht mehr das Gefühl geben, daß Ihr Prüfungen bestehen müßt, um Euch meiner Liebe würdig zu erweisen.
Von mir aus könnt Ihr auf ganzer Linie versagen, die Schule schmeißen. Wenn ich hier herauskomme, werde ich mir auch erlauben, hin und wieder zu versagen und vielleicht finden wir uns irgendwann lachend in der Gosse wieder. Ich bin mir nicht sicher, was Eure Mama dazu sagen würde, aber ich hoffe, daß sie mit uns lachen würde. Wir haben schon so lange nicht mehr zusammen gelacht.
Könnt Ihr Euch an den Campingurlaub in Südfrankreich erinnern? An die Ruderpartie auf dem See? Stefan ist seine Stoffgiraffe ins Wasser gefallen und wir sind alle gleichzeitig auf eine Seite des Bootes gehechtet, um sie zu retten. Da ist der Kahn umgekippt. Ihr habt geweint und Mama war totenblaß und hat den ganzen Tag kein Wort gesagt. Aber als wir abends vor dem Zelt am Feuer saßen, in Wolldecken gewickelt, da hat Stefan plötzlich angefangen schallend zu lachen und dann haben wir alle gewiehert und konnten uns nicht mehr einkriegen.
Vanessa, meine Große. Ich war vor Deiner Geburt so unglaublich angespannt und fahrig. Einige meiner Freunde hatten mir erzählt, daß die Geburt ihrer Kinder für sie ein unglaubliches, überwältigendes Erlebnis war, etwas Mystisches, Überirdisches, das sie bis ins Mark erschüttert hat. Als Du geboren wurdest, habe ich nichts Vergleichbares gefühlt. Ich habe darauf gewartet, daß meine Anspannung sich lösen würde, aber sie blieb. Ich habe ein schlechtes Gewissen gehabt deswegen. Ist es nicht dumm, ein schlechtes Gewissen zu haben, nur weil man nicht fühlt, was man gerne fühlen möchte? Und ist es nicht dämlich, sich selbst Dummheit vorzuwerfen, nur weil man ein schlechtes Gewissen wegen etwas hat, das man gerne fühlen möchte, aber nicht fühlen kann? So geht es endlos weiter. Bis die Vergebung den Kreis durchbricht.
Stefan, mein Großer. Du bist jetzt zwölf Jahre alt und manchmal kommst Du mir viel zu groß und viel zu alt vor. Du bist so ernst und so vernünftig. Die alberne Verspieltheit Deiner Freunde scheint Dir fremd zu sein. Aber vielleicht liegt es auch daran, daß nur ich Dich nie so erleben darf. Wenn ich mir Dein Gesicht vorstelle, sehe ich Falten auf Deiner Stirn. In meiner Erinnerung siehst Du aus, als wärest Du angestrengt damit beschäftigt, nicht zu weinen. Und ein Vorwurf liegt in Deinen Augen.
Jetzt stellt sich Deine Schwester an Deine Seite. Mit ihren fünfzehn Jahren bereits eine schmale, blasse Schönheit, wie ihre Mutter. In ihren Augen liegt der gleiche Vorwurf. Ihr wollt etwas von mir, etwas, das ich Euch vorenthalten habe. Ihr fordert etwas ein, das Euch zusteht. Ich weiß nicht, was Ihr wollt, ich weiß nicht, was ich Euch geben kann. Ich habe Angst vor Euch. Ich hatte immer Angst vor Euch. Ich, ... der große, starke Mann, hat Angst vor seinen kleinen Kindern.
Und ich fliehe. Ich fliehe in die Arbeit. Ich fliehe hinter die Zeitung. Ich fliehe in den Fernseher. Ich fliehe in den Golfclub. Ich fliehe in Ecken meines Gehirns, in denen mich der Vorwurf in Euren Augen nicht treffen kann. Aber da ist ja gar kein Vorwurf. Das sind traurige, suchende Blicke. Fragende Blicke. Papa, wo bist du? fragen sie. Ich bin hier. Irgendwo hier drin. In diesem Keller.
Ich habe mich manchmal gewundert, wenn wir gemeinsam unterwegs waren. Auf der Straße, im Supermarkt, in einer Ausstellung. Ich habe mich über das Lächeln gewundert, das Ihr Fremden geschenkt habt, die Euch freundlich begegnet sind. Dieses Geschenk, das ich so selten von Euch bekam, weil ich es nicht annehmen konnte. Ich habe mich dann gefragt, ob Euch nicht vielleicht irgendeiner dieser Fremden ein besserer Vater wäre als ich.
Euer Papa
Tim Ingold
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