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Brief an meine Partei und einige Freunde. Von Volker Kröning

■ „Ich mache mir große Sorgen“ - Welche Antworten hat die SPD auf die Krise des Wohlstands und damit des politischen Systems?

Ich mache mir große Sorgen um die Zukunft der Bremer SPD als Regierungspartei. Zu Beginn eines Schlüsseljahres der Selbstbehauptung unseres Landes und kurz vor der Halbzeit der Wahlperiode 1991 - 1995 möchte ich deshalb einige Gedanken und Anregungen geben, damit die Bremer SPD unter veränderten innen- und außenpolitischen Bedingungen ihr Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen als führende Regierungspartei behält, die Kraft und das Ansehen zurückgewinnt, die ihre Erfolge in der Nachkriegszeit ausgemacht haben, und wieder bereit und fähig wird, Wahlen erfolgreich zu bestehen. (...)

Unser Wohlstand wächst

nicht mehr

Die zahlreichen Mitglieder, Anhänger und Freunde, die der SPD in Bremen geblieben sind, erwarten - wie diejenigen der anderen Parteien - von den vom Volk gewählten Abgeordneten und dem von der Bürgerschaft gewählten Senat, daß sie sich in einer Zeit bewähren, die in Bremen nicht anders als in der übrigen Bundesrepublik - teils mehr, teils weniger - von epochalen Herausforderungen gekennzeichnet ist. Um ein berühmtes Wort der Verfassungsdebatte abzuwandeln, kommt die Bewältigung dieser Herausforderungen einer Neugründung unseres Landes gleich. Auch Bremen sehen wir gerne als „ewig“ an, doch auch seine Form und seine Inhalte muß jede Generation neu bestimmen.

Aus meiner Sicht lassen sich diese Herausforderungen im allgemeinen - und damit auch für Bremen - wie folgt zusammenfassen:

1. Unser Wohlstand wächst nicht mehr; er ist in Deutschland, besonders zwischen West und Ost, und darüber hinaus weltweit anders zu verteilen.

2. Dafür ist weiterhin und von neuem hart zu arbeiten, d.h. vor allem: Arbeit zu sichern und zu schaffen, von der möglichst viele Menschen zu fairen Bedingungen leben können.

3. Dies wird bedeuten, die Starken in unserer Gesellschaft heranzuziehen, ohne ihre Leistungsfähigkeit zu schwächen, und den Schwachen so zu helfen, daß sie in ihrer Leistungsfähigkeit gestärkt werden.

4. In einer Zeit neuer Ungewißheit ist den Menschen vor allem Sicherheit zu geben: Sicherheit über das, was sie erwartet und womit sie zu rechnen haben - und das erfordert Wahrhaftigkeit - , und Sicherheit in dem fundamentalen Sinne unseres Rechts- und Sozialstaates, nämlich als Schutz vor Gefahr und Not.

5. Leistet die Politik dies nicht, dann werden die Wähler mit dem Stimmzettel - und das kann härter ausfallen als ein Denkzettel - reagieren, Wahlenthaltung üben oder in Resignation oder Gewalt getrieben. Diese beiden für unsere Demokratie tödlichen Krankheiten sind auf jeder Ebene - Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik - zu bekämpfen, und das verlangt von der Politik in einem Stadtstaat eher mehr als weniger.

1. Die Politikfelder, die im Senat von den beiden Koalitionspartner vertreten werden, sind für die Partei nicht „verloren“ - wie jemand gesagt hat - oder tabu. Diese Felder zeichnen sich nicht nur durch „Altlasten“ aus, wie gelegentlich zu hören ist, sondern die neuen Kolleginnen und Kollegen bauen dort auch auf viel Vorarbeit auf, ohne die in vier Jahren kaum Erfolge zu erzielen sind.

Einige Punkte, bei denen

die SPD in Bremen wieder Profil gewinnen muß

Aber für die SPD gilt vor allem: Wirtschaft, innere Sicherheit, Umwelt und Kultur müssen auch unsere Themen bleiben.

Aktive Wirtschaftspolitik ist die beste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Wir müssen für den Nachweis genügender Gewerbeflächen eintreten, für die Erweiterung und Ansiedlung von Betrieben, auch und mehr als bisher des Mittelstandes und des Handwerks, und für die Beseitigung der Defizite der örtlichen und überörtlichen Verkehrsanbindung. Bremen braucht ein Klima des Anpackens aller hier Lebenden und Arbeitenden.

Die Polizei muß auf dem Weg der Organisationsreform und Leistungssteigerung weiterhin motiviert, materiell unterstützt, von Verwaltungsarbeit und durch Zusammenarbeit mit anderen Stellen der Prävention, Beratung und Hilfe entlastet und mit qualifiziertem Nachwuchs versorgt werden. Diese Priorität freiheitlicher Sicherheitspolitik wurde nie verkannt und bleibt zu beachten. Umweltschutz lebt

unter den kleinräumigen Bedingungen Bremens und Bremerhaven von geduldiger Kompromißbildung mit vielen widerstreitenden Interessen, besonders der Flächen- und Verkehrsplanung. Auch wenn die Leistungsbilanz Bremens auf diesem Gebiet nicht nur zwölf Monate, sondern mehr als zwei Jahrzehnte umfaßt, ist - nach der Devise: global denken, lokal handeln - noch viel zu leisten, besonders in der Energie- und Abfallpolitik. Kulturpolitik schließlich mußte und muß „vermarktet“ werden, besonders unter Bedingungen der Knappheit. Doch unter diesen Bedingungen wird sie nicht unwichtiger, sondern wichtiger, und sie sollte der Vitalität und Attraktivität unserer Städte und unseres Landes dienen ebenso wie Bildung und Wissenschaft.

2. Dies führt zu den Politikfeldern, die von der SPD im Senat vertreten werden. Sie sind nicht „undankbar“, wie manche meinen, und sie werden unserer Partei von den Koalitionspartnern auch nicht allein überlassen. Das ist in einem Senat und in einer Koalition auch undenkbar.

a) Unsere allgemein- und berufsbildenden Schulen, auch unsere Privatschulen und die Forschungsinstitute entscheiden mit über den Erfolg Bremens im verschärften regionalen und überregionalen Wettbewerb. Sie kosten nicht nur viel, sondern dürfen und müssen sich auch an dem Wettbewerb um die besten Plätze beteiligen. Der europäische Binnenmarkt, der in diesem Jahr begonnen hat, wird auch unsere Region verstärkt fordern. Darauf haben sich Handel, Dienstleistungen und Gewerbe bei uns schon früh vorbereitet. Das Urteil lautete bereits vor der deutschen Einigung und der Öffnung Europas, daß für Bremen die Chancen die Risiken überwiegen, und dies dürfte nun erst recht gelten. Doch dafür muß gerade auf den Gebieten der Gewinnung und Qualifizierung und des Einsatzes von „Humankapital“ noch viel mehr getan werden.

b) Arbeit und Wohnen bleiben - wie beim Wiederaufbau nach 1945 und bei der Einleitung einer aktiven, gegensteuernden Wirtschaftsstrukturpolitik Ende

Im Haus des Reichs wird über die Zukunft Bremens entschieden...Foto: Kartja Heddinga

der 70er/ Anfang der 80er Jahre - höchste Priorität, doch wir haben hier einen erheblichen Nachholbedarf. Dazu gehören die Entwicklung der Oberzentren Bremen und Bremerhaven und ihrer Nebenzentren, die Lösung der Verkehrs- und Kommunikationsbelange ihrer Unternehmen und Beschäftigten und die Schaffung moderner Arbeitsplätze und die Förderung selbständiger Existenzen. Und sicher ist: Die Wohnungsfrage ist die soziale Frage der Zukunft - und die hat schon begonnen.

c) Die Weser und unsere Häfen bleiben in Zeiten, in denen Straßen- und Luftverkehr zu kollabieren beginnen und Binnen- und Seeverkehr - und die ihnen zugeordneten Produktionen und Technologien - einer Renaissance entgegensehen, das Standbein unserer Selbständigkeit. Nicht umsonst liegt auf diesem Feld ein Schwerpunkt kurz- und langfristiger Investitionspolitik und besonderer Anstrengungen der Hafenstrukturpolitik und der Hafenwirtschaft des Landes.

Von allen diesen Dingen - Leistungen und Impulsen - redet die SPD nicht, obwohl sie getan werden. Gut, doch man vergesse nicht: Sie sind unverwechselbare Beiträge zur Zukunftsicherung, sie überzeugen die Menschen. So war und ist es - um nur einige Beispiele aus den zurückliegenden Jahrzehnten zu nennen - mit den Initiativen zur Ansiedlung der Klöckner-Hütte und des Daimler-Benz-Werkes, zum Wiederaufbau und schrittweisen Aus- und Umbau der Häfen, zur Gründung des Güterverkehrszentrums und des Technologieparks, zur Errichtung der Universität und zur Neuordnung der Hochschulen in Bremen und Bremerhaven, und so muß es gerade in Zeiten, in denen konjunkturelle und strukturelle Schatten auf unsere Wirtschaft fallen, erst recht weitergehen.

Deshalb baut das Sanierungsprogramm, das Beseitigung der Haushaltsnotlage und Strukturstärkung unserer Region zum Ziel hat, auch auf den Wirtschaftsstrukturpolischen Aktionsprogrammen I bis III auf und bleibt über alle Schwierigkeiten der Durchsetzung und Umsetzung der Orientierungsrahmen und Hauptauftrag bremischer Politik in den 90er Jahren.

3. Bei alledem muß die SPD - in Bremen wie im Bund und in den anderen Ländern und Gemein

den - die Partei der sozialen Verantwortung bleiben. „Partei der kleinen Leute“ sollte ein Ehrentitel sein.

Die Politik des Sozialstaates ist schwer fortzuführen

Die Geschichte Deutschlands und die Geschichte der SPD - nach 1945 auch die beider großen Volksparteien - sind mit dem Aufbau und Ausbau des Sozialstaates verbunden. Sie sind eine Erfolgsgeschichte der Reform, der Wahrung des sozialen Friedens und der Sicherung wirtschaftlicher Energien.

Doch dies ist vor dem Hintergrund der Kostenkrise unseres Sozialsystems - wie gegenwärtig im Gesundheitswesen oder bei der Sozialhilfe - schwer fortzuführen. Doch nicht Abbau, sondern Umbau des Sozialstaats muß die Antwort sein. Neue Aufgaben - wie Psychiatrie, Integration Behinderter oder Drogenarbeit - müssen bereits in einem begrenzten Ressourcenrahmen gelöst werden, und diese Aufgabe wird sich bei Einführung einer Pflegeversicherung oder eines Rechtsanspruchs auf einen Kindergarten- und Hortplatz verschärft stellen.

Doch kein öffentlicher Haushalt wird auf diesem Sektor - und nicht nur auf diesem, wie die Kostendebatten über die Hochschulen oder die Justiz ebenfalls zeigen - um gestaltende Eingriffe in Gesetzgebung und Verwaltung herumkommen, die zu Umschichtungen und Umstrukturierungen von Leistungen führen werden. Dies wird das Kernthema der bevorstehenden Verhandlungen zwischen Staat und Verbänden und zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zur Finanzierung des „Solidarpaktes“ (in Verbindung mit der Finanzreform 1995) sein. Auch Bremen wird sich um seines Überlebens willen dieser Aufgabe - bei der Mitwirkung an der Bundegesetzgebung wie bei Gestaltung und Vollzug seiner Haushalte - nicht entziehen können. So oder so - ob sie an der Regierung oder in der Opposition ist oder ob sie für dieses Ressort verantwortlich ist oder nicht - ist es für die SPD unausweichlich, sich für eine Gerechtigkeitsmaßstäben folgende und zugleich ressourcenkritische Sozialpolitik zu engagieren, ja dieser Politik in einer neuen Epoche wieder ihre Handschrift zu geben.

Für die Bremer SPD heißt dies, die überdurchschnittlichen Standards auf diesem - und nicht

nur diesem - Feld in unserem Land unter Bedingungen extremer Haushaltsnotlage bzw. mehrjähriger Sanierung des Haushalts an den Bundesdurchschnitt anzupassen. (...)

4. Schließlich spielen eine Hauptrolle bei der Bewältigung des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Konsolidierung des Haushalts des Landes der Öffentliche Dienst und die Verwaltung.

Die Rechtfertigung der Selbständigkeit Bremens in den Augen seiner Bürger beruht vor allem auf den Vorteilen der „Kleinheit“. Kurze Wege, schnelle Entscheidungen, die Verbindung von Landes- und Gemeindefunktionen, „Bürgernähe“, Transparenz und Effizienz wurden und werden - in welcher Rolle der Bürger der Verwaltung auch immer begegnet - als Vorteile gegenüber anderen Ländern und Gemeinden behauptet. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen dem Selbstlob der Regierenden und dem Alltag der Verwaltung klafft eine Lücke.

Ein Gemeinwesen, das gut regiert werden soll, muß auch gut verwaltet werden. Die Kritik an der Verwaltung schlägt auf die Politik zurück - und zu recht. Die Bürger beziehen ihr Urteil über die Qualität des Verwaltungshandelns, mit der sie die Wirklichkeit des Regierens mindestens ebenso stark erfahren wie über Presse und Rundfunk, immer mehr aus dem Vergleich mit privaten Dienstleistungsunternehmen. Ihre Vergleichsmöglichkeiten wachsen sogar mit ihren Erfahrungen als „Kunden“ verschiedener öffentlicher Leistungsträger, beim Doppelkontakt mit bremischen und niedersächsischen Dienststellen und mit ihrer allgemeinen Mobilität. Daher haben das Land Bremen und seine beiden Städte allen Anlaß, sich der überfälligen Aufgabe fundierter Bürokratiekritik und grundlegender Reform der Regierungs- und Verwaltungsorganisation zu stellen, die das Lob der Kleinheit neu rechtfertigt. (...)

Das kleine Land Bremen ist erst etwa auf der Mitte eines rd. 20jährigen wirtschaftlichen und finanziellen Anpassungsprozesses angelangt. Der Erfolg der Stärkung seiner Wirtschaftsstruktur und der Wiederherstellung einer finanziellen Normallage im Innen- und Außenverhältnis hängt von der Durchführung der mit dem Bund und den anderen Ländern verabredeten Sanierung des Landes unter den Bedingungen des neuen, ab 1995 einsetzenden bundesstaatlichen Finanzausgleichs ab. Über diese Perspektive wird im Laufe des Jahres 1993 zu entscheiden sein, und es wird sich um Einleitung, besser: Abschluß eines Prozesses der Neustrukturierung von Aufgaben und Ressourcen handeln, der mindestens über die nächste bis in die übernächste Wahlperiode reichen wird. Nicht 1995, sondern 1999 würde das Bewährungsjahr der Selbständigkeit Bremens werden. Dort werden die Parteien in diesem Jahr in der Bürgerschaft darüber zu entscheiden haben, in welcher Rolle sie sich dieser langdauernden Anforderung stellen wollen, ob sie diesen „Willen mit langem Atem“ zur Selbständigkeit aufzubringen vermögen.

Die SPD muß aus ihrer

Wagenburg heraus

Dabei muß die Bremer SPD - wie die Gesamtorganisation - einsehen, daß die Zeit struktureller Alleinregierung - nach Bund und Ländern - auch in den Kommunen zu Ende geht und absolute Mehrheiten eher die Ausnahme als die Regel sein werden. Nach fast 50jähriger Regierungsführung muß die Bremer SPD zudem neue Mittel und Wege finden, ihre Überzeugungs- und Gestaltungskraft zu erneuern:

Sie muß aus der Wagenburg ihrer vorwiegend mit Personalpolitik und Detailthemen beschäftigten Verfassung der Durchwurstelei herauskommen,

sie muß wieder für Menschen interessant werden, die eine moderne, qualifizierte Arbeitnehmerschaft, Selbständige, Lehrende und Lernende, Junge und Alte und die kulturellen und die vor-, nach- und querdenkenden Kräfte unserer Gesellschaft verkörpern, und sie muß Antworten auf Fragen geben, die über das Alltagsgeschäft der Regierung hinausweisen und es zugleich anregen und anspornen. (...)

Keine Plattform

Ich bitte Euch alle, liebe Freunde, wenn Ihr diese Überlegungen teilt (oder nicht), um Äußerung, besonders um Äußerung dazu, ob Ihr an einer Diskussion über diese - und andere - Fragen der Zukunftsicherung Bremens - dieser alten und modernen „Bürgerschaft“ - Interesse habt. Ich wäre auch für kritisch-konstruktive Stellungnahmen dankbar.

Dieser Brief ist keine Plattform, sondern soll ein Denk- und Willensanstoß sein. Er ersetzt nicht vertiefende Diskussionen über Einzelfelder und Gesamtdarstellung unserer Politik, er verzichtet bewußt auf wichtige weitere Themen - z.B. Frauen- und Jugendpolitik. Doch ich halte den Anstoß für überfällig. Viel- leicht könnte sich daraus ein gemeinsamer Impuls entwickeln.

Volker Kröning, Januar 1993

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