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Breschnew weint

„Ich mache einfach etwas Schönes“: Der aus Sheffield stammende Chronometrist David Ralston ist ein Mann mit vielen Grillen. Ein Porträt

von FALKO HENNIG

Mir gefallen immer die heruntergekommenen Häuser mit dem längst abgebröckelten Putz, auf deren Dächern und Regenrinnen kleine schlanke Bäume wachsen. In den Hauseingängen findet man geheimnisvolle alte Firmenschriften, längst übermalt. Durch das Sonnenlicht vieler Sommer sind die Wandfarben ausgeblichen, und die ursprünglichen Inschriften schimmern wieder hervor, so wie Gletscher manchmal Erfrorene preisgeben aus einer anderen Epoche. Ich spaziere durch die Hinterhöfe, Ausschau haltend nach etwas Interessantem. Was interessant ist, weiß man nie vorher. Manchmal sah ich eine Wohnung voller Gartenzwerge, und an einem Fenster zählte ich nicht weniger als sechs Satellitenschüsseln. Und hier steht an einer Türklingel „Chronometrie“.

Ich klingele, das will ich doch wissen, was „Chronometrie“ sein könnte. Freundlich, als hätte er mich erwartet, öffnet ein Mann von ungefähr 40 Jahren und führt mich, vorbei an einer altertümlichen Heizungsanlage, in seinen Kellerraum, sein Zeitlabor. David Ralston heißt er, erfahre ich, und Chronometrie sei wissenschaftliche Zeitmessung, aber nicht nur, auch künstlerische. Ralston ist Engländer und baut Uhren, normale mit Uhrzeit in Stunden und Minuten, aber auch Objekte, an denen erst in 500 oder 1.000 Jahren Veränderungen zu bemerken sein werden. Schlanke Glaszylinder mit gefärbter Flüssigkeit stehen bei ihm. Durch diese blubbert Propangas, das oben in vielfach geschwungenen Kupferröhren ausläuft, aus denen die Flammen brennen wie an einem ganz besonderem Adventskranz. Aber die meisten seiner Objekte sind zurzeit gar nicht in seiner Werkstatt, sondern in der Galerie NAKT am Mühlendamm.

Ralston lädt mich ein. Wir steigen in seine Messerschmitt-Kabine, einen Kleinwagen aus den 50er-Jahren, und fahren zu seiner Ausstellung. Das Lenkrad ist mit einem Scharnier mit der Tür verbunden, zum Einsteigen wird die ganze Front des Fahrzeuges weggeklappt. Als Schrott hat er das Mini-Auto bei Dortmund gekauft, es passte ohne Fahrgestell hochkant in sein Wohnmobil. Er selber stammt aus Sheffield, einer Stadt in Mittelengland. Vor acht Jahren kam er nach Berlin, wollte nur Urlaub machen, fand es hier dann aber so schön, dass er einfach geblieben ist. Von Beruf Ingenieur für Feinmechanik, wollte er nicht immer nur Maschinen bauen, die keinen Sinn haben. „Ich mache einfach etwas Schönes.“

Dann kommen wir an der East Side an, die Galerie befindet sich nicht weit von der Oberbaumbrücke auf einem Industriegelände. Ralston erläutert weitere, erstaunliche und spannende Objekte. An einer anderen Wand hängt ein kleiner Schrank aus dunklem Holz, ähnlich den früher üblichen Zigarrenschränkchen, aus dem oben wie bei einem Mehrklanghorn Trompetenstürze hervorragen. Eigentlich soll aus den Lautsprechern das schöne Sommergeräusch der Grillen tönen. Denn öffnet man das Schränkchen, sieht man ein großes Glas mit den Nervensägen. Die brauchen keine direkte Sonne, um den ganzen Tag Krach zu machen. Sie sitzen gerne im Schatten, erklärt Ralston, „deshalb sind sie hier im Schrank“. Ihr Geräusch habe mit Fortpflanzung zu tun, sie schrien unentwegt: „Ich bin hier, ich bin hier!“ Auch bei Menschen sei die Fortpflanzung sehr wichtig, doch gehe dabei viel im Kopf vor, „Wir machen weniger Geräusche, wir sind ziemlich leise, wir verbergen alles, decken alles ab. Deshalb sind die Grillen hier im Schrank versteckt, zugeschlossen.“

Nur manchmal kämen Geräusche aus dem Hotelzimmer, dann gäbe es Probleme. Offen bleibt, ob Ralston die menschlichen oder die menschlichen Liebeslaute oder die der Insekten meint. Gegenüber von dem Grillenschrank ist eine Anordnung, die an kirchliche Altäre erinnert. Ein Breschnew-Bild, darüber hängt eine Schweinshaxe, und Breschnew, durch verborgene Schläuche ausgelöst, weint. Rechts und links davon drehen sich Gebilde wie buddhistische Gebetsmühlen. Geht man jedoch näher heran, erkennt man, dass die sich drehenden Mühlen stroboskopische Scheiben sind, durch deren Schlitze man kurze Tricksequenzen sehen kann. Für jeden neuen Kurzfilm muss man sich etwas weiter hinunterbeugen, schließlich für die untersten Schlitze auf die Knie gehen und sich hinlegen. Und so ist es von Ralston gedacht. Die anderen Passanten sollen sehen, wie Menschen vor dem Breschnew-Altar und den Gebetsmühlen liegen, in unerklärlicher Verehrung.

Eine andere seiner Uhren schwebt an der Decke, steinerne Kugeln rollen auf Bahnen und über Ebenen aus Eisenschienen, klacken laut aneinander und bringen das ganze Objekt zum Schwingen. „Manche Leute haben das wirklich in der Wohnung“, sagt Ralston, „aber eigentlich ist es zu laut, diese Kugeln machen jede Minute Krach, deshalb ist es problematisch, das in eine Wohnung zu hängen. Aber für ein Foyer oder so etwas, das würde gehen.“

Viel verkaufen tut er leider noch nicht, hin und wieder etwas, der Kunstmarkt sei auch nicht einfach. Ein Sandrad hängt in einer Ecke, es ist seine persönliche Erfindung, es gibt nur drei Exemplare „auf der ganzen Erde“. Die beiden anderen liegen flach in seiner Werkstatt, da sie sehr viel Platz brauchen. Wie bei einer Eieruhr rieselt in der durchsichtigen Felge Sand von Segment zu Segment, verlangsamt also das Drehen des Rades, das von einem Gewicht angetrieben wird. Das Rad zeigt die Uhrzeit, und es ist dabei selber eine Uhr.

Die meisten Besucher begreifen das Prinzip nicht, hielten es eher für ein Schwungrad und drehten daran mit aller Kraft wie an einem Glücksrad, so dass Ralston mit schwarzen Fäden zum Schutz eine Art Spinnennetz vor das Objekt knüpfte. „Teer ist ein sehr schönes Material“, findet er, ein großer Block aus diesem schwarzen Stoff liegt in einem Glastrichter. Teer, so erklärt Ralston, sei gleichzeitig fest und unmerklich flüssig, fließe wie Eis in der Sonne, doch nur in Jahrzehnten und Jahrhunderten. An den Stellen, wo der Teer auf dem Glas des Trichters aufliegt, bildet es bereits Druckstellen, taut sozusagen.

David Ralston versucht, die vergehende Zeit mit seinen Objekten festzuhalten. „Stunden sind nur willkürliche Zeitabschnitte.“ Wie Tage und Jahre, die Lebenszeit.

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