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Bremerhavener Sprach-OrthodoxieMehr als ein Kulturkämpfchen

Alexander Diehl
Kommentar von Alexander Diehl

Mit ihrem Nein zum Gendern ignorieren SPD, CDU und FDP in Bremerhaven höchste Rechtsprechung.

M und W reichen seit 2017 nicht mehr: Ein Plakat wirbt für eine dritte Geschlechtsbezeichnung Foto: Jan Woitas/dpa

Z urück in die Sprach-Steinzeit? Ganz so leicht lässt sich nicht aburteilen, was in Bremerhavens Stadverordnetenversammlung beschlossen wurde. Einfach alles lassen, wie es immer war, wollen SPD, CDU und FDP ja gar nicht. So soll das generische Maskulinum, die männliche Form, die alles andere „mitmeint“, vermieden werden. Dafür gibt es doch Lob, vermutlich sogar von Emma! Nur mit diesen komischen Sonderzeichen tut die Koalition sich schwer. Und hat sie nicht auch gute Argumente?

Ja – auf den ersten Blick: die geltenden Rechtschreibregeln, der fehlende Mehrheitswille zum Gendern und, durchaus nicht zuletzt, die Barrierefreiheit. Denn wer Sternchen und Doppelpunkte in die Wörter packt, bringt damit ja ausgerechnet die technischen Hilfsmittel ins Schlingern, die ihrerseits Schieflagen begradigen sollen, nämlich die Teilhabe von Menschen mit Behinderung.

Aber richtig zu Ende gedacht haben sie ihren Widerstand eben doch nicht, die drei Koalitionärinnen – Fraktionen sind den geltenden Regeln nach ja immer noch weiblichen grammatikalischen Geschlechts; Abgeordneten-Männchen sind aber mitgemeint, selbstverständlich und voller Respekt. So ist Bremens Landesbehindertenbeauftragter ausdrücklich fürs Gendern; dass Screenreader die ach so sperrigen Sonderzeichen mit vorlesen, dürfte schlicht ein Übergangsproblem sein.

Das Mehrheitsprinzip hat Grenzen

Und würde Demokratie darin gipfeln, einen –ja auch nur in unterschiedlich seriösen Umfragen ermittelten – Mehrheitswillen durchzusetzen: Wie oft käme irgendeine Minderheit zu ihrem Recht? Eben so eines hat 2017 aber das Bundesverfassungsgericht formuliert, als es neben Mann und Frau eine dritte Geschlechtskategorie nicht nur erlaubte, sondern verlangte.

Und das macht aus der Gender-Orthodoxie mehr als nur ein Kulturkämpfchen, mehr auch als schlichte Arbeitsverweigerung – denn was passiert, wenn künftig eine zu erledigende Sache solche bösen Zeichen enthält: Landet sie im Parlamentspapierkorb? Hier ignorieren sie in Bremerhaven ohne Not die Rechtsprechung.

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Alexander Diehl
Redakteur taz nord
Wollte irgendwann Geisteswissenschaftler werden, ließ mich aber vom Journalismus ablenken. Volontär bei der taz hamburg, später auch mal stv. Redaktionsleiter der taz nord. Seit Anfang 2017 Redakteur gerne -- aber nicht nur -- für Kulturelles i.w.S.
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2 Kommentare

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  • Man fragt sich, wen man bei der Gender-Orthodoxie meint? Man bezeichnet in diesem Artikel die Gegenseite so, aber schreibt man nicht eigentlich über sich selbst?



    Die Befürworter gehen in ihrer Argumentation deutlich rigoroser und absoluter vor, als ob sprachliche Sichtbarkeit quasi ein Menschenrecht sei.



    Dabei übersieht man, dass man sich in der deutschen Sprache auf einen einsamen Sonderweg begeben hat, den keine unserer verwandten Sprachen eingeschlagen hat. Das sollte man sich immer vor Augen führen! Die Gründe liegen natürlich auf der Hand: Gendern mit Sternchen und dauernden Doppelnennungen ist völlig unpraktikabel und wird sich schon allein deswegen nicht durchsetzen. Eine einfache generische Form ist eben wunderbar praktisch und auch keine Moral kann daran je etwas ändern!

  • Einfache Lösung: Weibliche Formen abschaffen. Vereinfacht die Sprache und lenkt den Fokus auf das Wesentliche und von der Nebensache weg, welche Geschlechter die bezeichneten Personen haben können. Wenn das Geschlecht im Einzelfall relevant ist, kann man immer noch "männlicher"/"weiblicher"/... voranstellen, so wie man das mit anderen Identitätseigenschaften (Ethnie, Religion, ...) schon zu tun gewohnt ist