: Braunschweig rettet die Ideologie
Das Georg-Eckert-Institut für Bildungsmedien digitalisiert derzeit 1.000 Schulbücher der DDR. Das ermöglicht, ihre Rolle als Weltbild-Vermittler zu erforschen
Von Harff-Peter Schönherr
Die DDR ist Geschichte. Aber was Geschichte ist, ist nicht tot. Und wer aus der Geschichte lernen will, muss sich an sie erinnern, sie erforschen. Das Braunschweiger Leibniz-Institut für Bildungsmedien, Georg-Eckert-Institut (GEI), im Besitz von rund 1.000 Schulbüchern des 1990 beendeten Sozialismus-Versuchs Deutsche Demokratische Republik, bereitet derzeit einen solchen Lerneffekt vor: Es macht das Druckerzeugnis-Konvolut digital zugänglich. Rund 120.000 Seiten werden dafür eingescannt, sämtlich von Hand. Zwei Jahre wird diese Geduldsarbeit dauern, bis Mitte 2027.
Dass sich die Bücher demnächst digital durchsuchen lassen, auch unter Einsatz von KI, soll ihre Analyse erleichtern. Forschungen zur Weltbildvermittlung und zur Verwendung ideologisch geprägter Narrative werden leichter gemacht. Muster didaktischer Wirkmittel können so besser durchleuchtet werden, Inhaltsentwicklungen, Zielsetzungen politischer Bildung. Auch die Lehramtsstudierenden der TU Braunschweig profitieren davon: In Seminaren des Georg-Eckert-Instituts werden sie sich nicht zuletzt mit Quellenkritik befassen.
Es geht aber auch um das Material, aus dem die Bücher hergestellt sind: „Das zerbröselt uns zum Teil in den Händen“, sagt Anke Hertling, Leiterin der institutseigenen Forschungsbibliothek. „Die Papierqualität ist denkbar schlecht. Die Seiten weisen teils starke Verbräunungen auf, und stellenweise ist dadurch der Text nur noch schwer erkennbar.“ Hier schlägt die Ressourcenknappheit der damaligen DDR durch. Außerdem sollten die Bücher so preisgünstig wie möglich sein, Premiumverarbeitung war also keine Option. „Die sind echte Sorgenkinder“, sagt Hertling. „Die sind stark gefährdet.“
Generell konzentriert auf soziokulturelle, politische, ökonomische und historische Kontexte, befasst sich das Institut für diese Rettungsarbeit, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, mit Schulbüchern der Fächer Geschichte und Staatsbürgerkunde. Und während Letztere oft als „ziemliche Textwüste“ daherkommen, seien die Geschichtsbücher „sehr viel ansprechender, aufwändiger und kreativer gestaltet“, sagt Hertling. „Da hat man sich wirklich Mühe gegeben, mit vielen Bildern und Tabellen, vielen Quellen.“
Hertling kennt das alles nicht nur aus professioneller, sondern auch aus persönlicher Sicht, denn sie ist in der DDR zur Schule gegangen. „Besonders am Geschichtsunterricht war ich immer stark interessiert“, sagt sie. Die Bücher, die das Institut gerade aufbereitet, sieht sie auch als „emotionale Medien“: „Die haben ja jeden lange begleitet. Da musste ja jeder durch.“
Nach ihrer Digitalisierung stehen die DDR-Bücher zunächst nur der Forschung zur Verfügung. Frei nutzbar, für jedermann, werden sie erst später, denn sie unterliegen noch dem Urheberrecht. Aber auch bis dahin lohnt sich schon ein Blick in Titel wie August Märckers „Fibel für den Schreib- und Lese-Unterricht im ersten Schuljahr“, Hamburg, 1888 („Ich bin klein, mein Herz ist rein …“) oder die „Geschichte der Menschheit und der Religion in Erzählungen zur Unterweisung der Jugend“ von Christoph Friedrich Conrad, Berlin, 1776. Diese Bücher sind frei am Bildschirm einsehbar.
Das Georg-Eckert-Institut besitzt Schulbücher aus 180 Ländern, die ältesten aus dem 17. Jahrhundert. Seine Sammlung ist 183.000 Print- und Online-Medien groß, von der Geografie bis zur Sozialkunde, vom Lesebuch bis zum Atlas. „Das reicht bis Nordkorea“, sagt Hertling. „Aus diesem Land haben wir zwar nur ein einziges Buch, aber immerhin.“ Ein weltweit einzigartiger Schatz. Um ihn zu mehren, helfen oft persönliche Kontakte: Neulich habe ein iranischer Gastwissenschaftler dem Institut „ein ganzes Paket“ zusammengestellt. Deutschland ist vollzählig vorhanden, die EU auch.
Anke Hertling, Leiterin der GEI-Forschungsbibliothek
In jedem der Digitalisate steckt viel Arbeit. „Wenn wir das nach dem Scan in unsere Software einspielen, müssen wir ja noch überprüfen, ob auch wirklich alles stimmt. Ist das der richtige Text? Welches Kapitel und welche Abbildung steht auf welcher Seite?“, erklärt Hertling. Passt alles, können sich die ForscherInnen bedienen. Wer etwa wissen will, wie oft und in welchen Kontexten der Begriff „Arbeiterbewegung“ in den 120.000 Seiten vorkommt, ist vom Ergebnis fortan nur ein paar Klicks entfernt.
Und der Blick in die 1.000 Bände ist nicht nur ein Blick in die Vergangenheit. Er vertieft unser Wissen um die Mechanismen, derer sich politische Bildung bedient. Und ein Vergleich etwa zur Bundesrepublik wie auch zu anderen Ländern lohnt sich, denn Ideologien, die in Bildung einzusickern versuchen, gibt es überall.
Dass rechtsgerichtete Polit-Akteure Einfluss auf das Schulwesen gewinnen könnten und dadurch auf Schulbuchinhalte, wie von der AfD bereits versucht, sieht Hertling mit Sorge. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, die Multiperspektivität in Schulbüchern zu fördern“, sagt sie. „Das geht von der Inklusion bis zur Queerness.“
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