Boxer mit jüdischen Wurzeln in NS-Zeit: Die Würde eines Boxers
Wie Ernst Weiss, der österreichische Boxprofi mit jüdischen Wurzeln, die Novemberpogrome 1938 erlebt und die Nazizeit überlebt.
A m Sonntag war der 9. November, und es wurde viel der Menschen gedacht, die im und vom NS-Regime verfolgt und ermordet wurden.
Das ist für mich der Grund, warum ich heute über Ernst Weiss aus Wien schreibe. Sein Name war mir zwar schon lange ein Begriff, aber nur aus, wie man so unschön sagt, rein sportlichen Gründen. Er war drei Mal Europameister in drei unterschiedlichen Gewichtsklassen. 1936 holte er den Titel im Fliegengewicht, 1939 im Bantamgewicht und 1941 im Federgewicht.
In einem Buch zur Geschichte des deutschen Berufsboxens, das ich 2000 mit einem Kollegen schrieb, taucht er zwei Mal auf, denn wir haben da eine Statistik zu EM-Kämpfen mit deutscher Beteiligung. Dass 1939 und 1941 ein Mann aus Wien dort kämpfte, versahen wir mit der Bemerkung: „Österreich gehörte seit der Annexion im März 1938 zum deutschen Reich.“ Er erschien uns als einer, der aus dem „Anschluss“ Österreichs einen Nutzen gezogen hätte.
Dass Ernst Weiss den Nazis als „Mischling II. Grades“ galt, weil sein Großvater mütterlicherseits Jude war, wussten wir nicht. Vieles von dem, was ich hier schreibe und heute weiß, verdanke ich der Arbeit der österreichischen Historikerin Martina Lang.
„Vom Boxteufel besessen“
Bis 1932 arbeitete Weiss als Kellner und als man ihn rauswarf, ging er feiern: Er besuchte den ersten Boxkampf seines Leben, trat in einen Klub ein, und als der tunesische Profiweltmeister Victor „Young“ Perez in Wien war, durfte er Sparringspartner werden.
Weiss war fasziniert, „ich war vom Boxteufel besessen“. Er wurde Profi und bereits 1934 österreichischer Meister. Die Familie mochte die Entscheidung nicht. „A so a liaber Bua, will sich verhaun lassen“, musste er sich anhören. Im August 1936 bekam er einen Kampf gegen sein Idol vermittelt: Victor „Young“ Perez. Weiss gewann. Im Oktober 1936 wurde er Europameister.
Weiss war ein unglaublich fleißiger Kämpfer: Im Jahr 1936 hatte er 12 Kämpfe, 1937 waren es 11, 1938 kam er auf 14 Kämpfe, 1939 waren es 9, im Kriegsjahr 1940 waren es 5, 1941 dann 13, und noch 1942 trat er 6-mal in den Ring – zuletzt im Oktober in der Berliner Deutschlandhalle. Martina Lang erwähnt, dass er Frakturen der Mittelhandknochen beider Hände erlitt.
Als Österreich von Deutschland annektiert wurde, war Weiss gerade zum Boxen in Paris. Er hasste den Anschluss, zog aber dennoch 1938 nach Berlin. Im November, rund um die Pogromnacht, boxte er sogar wieder gegen Perez in der Berliner Deutschlandhalle. Weiss erinnerte sich an die Umstände. „Und so lief ich niedergeschlagen neben Perez“, berichtet er von einem Spaziergang. Young Perez war Jude, die Nazis haben ihn später nach Auschwitz deportiert. Im Januar 1945 wurde er auf einen Todesmarsch geschickt und von SS-Posten erschossen.
Ernst Weiss blieb zwar bedroht, aber vermutlich schützte ihn seine Prominenz. 1942 verlor er einen Kampf durch K. o., drei Tage später zog ihn die Wehrmacht ein, und als er vergleichsweise spät, im November 1944, von der Gestapo verhaftet und inhaftiert wurde, hat wohl der Staatsanwalt, der ansonsten für das Fordern von Todesurteilen berüchtigt war, in ihm den berühmten Boxer erkannt und die Anklage zurückgestellt.
Verhaftet hatten ihn die Nazis, weil Weiss im österreichischen Widerstand aktiv war. Dass er in der Naziideologie ein „jüdischer Mischling“ war, kam juristisch gegen ihn nie zum Tragen, auch wenn er sich immer der Gefahr bewusst war.
Was lehrt mich die Lebensgeschichte des Ernst Weiss? Vielleicht dies: wie wertvoll und facettenreich und würdevoll menschliches Leben sein kann. Und wie falsch es ist, aus einfachen Lebensdaten ein schnelles Urteil zu bilden.
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