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Boston-Anschlag im NetzStrunzdummer Schwarm

Ein seit März verschwundener US-Student wurde zu Unrecht verdächtigt, mit dem Boston-Anschlag zu tun zu haben. Nun wurde er tot aufgefunden.

Eine irrt sich und alle glauben's. Screenshot: wetwater / photocase.com

BERLIN taz | Einen Tag lang war Sunil Tripathi einer der Boston-Bomber. Im Internet. Verbreitet von zehntausenden Nutzern auf Twitter, Facebook, Reddit und 4Chan.

Jetzt ist der indisch-amerikanische Student tot. Eine am Dienstag gefundene Leiche sei von einem Gerichtsmediziner als seine identifiziert worden, hieß es am Freitag. Tripathis Familie schreibt: „Der vergangene Monat hat unser Leben für immer verändert, und wir hoffen, dass er auch Eures verändert.“

Sunil Tripathi hatte mit dem Anschlag auf den Marathon in Boston am 15. April nichts zu tun. Und trotzdem wurde er zum Verdächtigen. Die Crowd hat ihn dazu gemacht. Jene Masse oft anonymer Onlinenutzer, die im Schwarm eine erstaunliche Intelligenz entwickeln kann.

Doch im Fall von Sunil Tripathi war der Schwarm strunzdumm. Tausende von Menschen klinkten sich vergangene Woche in die Suche nach den Attentätern von Boston ein. Die Masse geriet außer Kontrolle. Und richtete einigen Schaden an.

Sunil Tripathi, Philosophiestudent an der Brown Universität in Providence im US-Bundesstaat Rhode Island, war seit dem 16. März spurlos verschwunden. Handy und Geldbeutel ließ der 22-Jährige in seinem Appartement in Campusnähe liegen. Er soll an Depressionen gelitten haben.

Spitzname „Sunny“

Seine Familie, seine Freunde und seine Mitstudenten suchten verzweifelt nach ihm. Sie starteten eine ergreifende Onlinekampagne auf Facebook und Youtube: „Helft uns Sunil Tripathi zu finden.“ Sie malten sich Sonnen auf ihre Hände. Das war sein Spitzname: Sunny.

Doch dann kam der Anschlag auf den Boston-Marathon. 3 Tote, mehr als 200 Verletzte. Eine Nation im Ausnahmezustand.

Sunil Tripathi, Philosophiestudent, war seit dem 16. März spurlos verschwunden. Bild: reuters

Wer zuerst das Gerücht in die Welt setzte, der vermisste Sunil Tripathi sei einer der Boston-Bomber, lässt sich nicht mehr zu 100 Prozent nachvollziehen; viele Posts im Internet wurden im Nachhinein gelöscht. Womöglich war es ein Twitter-Eintrag einer Mitschülerin Tripathis, mit dem am 18. April die Lawine losgetreten wurde. Kurz davor hatte das FBI grisselige Bilder zweier Männer veröffentlicht. Die High-School-Bekannte glaubt: der Verdächtige Nummer 2 könnte Sunil sein.

Auch die Hobbyermittler aus der Online-Crowd sehen Ähnlichkeiten zwischen Sunil Tripathi und dem Mann mit der weißen Mütze auf den FBI-Fotos. Vielleicht auch, weil sie diese unbedingt sehen wollen. Denn wäre das nicht endgültig eine Revolution: Wenn der Schwarm Attentäter zur Strecke bringen kann?

Richtig Geschwindigkeit nimmt die Internet-Lawine erst auf, als ein Twitter-Nutzer, der den Polizeifunk abhört, ebenfalls behauptete den Namen Sunil Tripathi aufgeschnappt zu haben; ob der Name im Funk jemals fiel, ist unklar. Jedenfalls verbreitet er sich von nun an rasend. Spätestens als der Account von Anonymous die Botschaft weiterträgt, weiß davon die ganze Welt. Das Aktivisten-Kollektiv hat über eine Million Leser.

Belagerungszustand

„Der Boston-Verdächtige – ein verschwundener Student?“, fragt ein deutsches Online-Medium. Und ein Schweizer Boulevardblatt schreibt: „Der flüchtige Attentäter Sunil verschwand vor einem Monat.“

Derweil belagern Journalisten längst das Haus von Sunil Tripathis Familie in Bryn Mawr in Pennsylvania. Seine Schwester erhält innerhalb von eineinhalb Stunden 72 Anrufe auf ihrem Handy, wie sie später der BBC berichtet. Die Facebook-Seite, mit der die Familie nach ihrem vermissten Sohn sucht, wird mit Kommentaren geflutet, viele voller Hass.

Erst als am vergangenen Freitag altmodische Medien – allen voran NBC und AP – von zwei Brüdern mit tschetschenischen Wurzeln berichten und kurz darauf die Namen der echten Terrorverdächtigen bekannt werden, hört der Spuk auf. Am späten Abend nimmt die Polizei den jüngeren der beiden, Dschochar Zarnajew, fest. Ihn hatte die Crowd mit Sunil Tripathi verwechselt.

Vier Tage später wird im Gewässer am India Point Park in Providence die Leiche des 22-jährigen Studenten gefunden. Wann genau Sunil Tripathi starb, ist noch unklar. Er sei schon seit geraumer Zeit tot und soll an seinen Zähnen identifiziert worden sein, berichteten US-Medien am Freitag. Dass er sich wegen der Falschbeschuldigungen umbrachte, wie manche sofort vermuteten, kann man derzeit unmöglich behaupten.

Tripathis Familie schrieb am Freitag auf Facebook: „Passt aufeinander auf. Seid behutsam, seid mitfühlend.“

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11 Kommentare

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  • E
    Europäer

    Leider, "Demokrator", gehören diese zu "unserer" Unternehmenskultur.

    Nur gut, dass die "Ergebnisse" noch nie Einfluss auf operative oder gar strategische Entscheidungen hatten.

    Allerdings kenne ich zwei Familienunternehmen in meiner Branche, welche auf Grund von schwarmintelligenten Marketingkampagnen massive Absatzeinbrüche verzeichneten und daher von Konzernen übernommen wurden.

    Ich würde nicht von Schwarm- sondern von Kettenintelligenz sprechen, da das Limit immer vom schwächsten Glied bestimmt wird.

  • RB
    Rainer B.

    Das Gerücht

     

    Der Ruf ist selten ohne Grund,

    Vergrößert er gleich alle Sachen;

    Die Wahrheit öffnet ihm den Mund

    Und lehret ihn die Lügen machen;

    Er setzt, um mehr uns zu betrügen,

    Zur Finsterniß ein wenig Klarheit,

    Spricht keine Wahrheit ohne Lügen

    Und keine Lügen ohne Wahrheit.

     

    (Christian Wernicke)

  • D
    DerDemokrator

    @Europäer

     

    Sie haben offenbar schon mehrfach "Kreatief-Sitzungen" mitgemacht;-).

    Um andere für dumm zu verkaufen (wie in der Werbung) braucht es möglicherweise die Schwarmintelligenz.

    Wenn man mal zu irgendeinem beliebigen gesellschaftlichen Thema googelt, dann stellt man schnell fest, das die Medienwelt nahezu ausschließlich durch den Schwarm lebt. Riesenartikelserien aller Medien die abrupt zum gleichen Zeitpunkt komplett abreissen-zeigt auch wie manipulierbar das Ganze ist.

    Lieber selbst "nen Kopp machen" als anderen das Denken überlassen.

  • S
    Seeanemone

    Interessanter Artikel über ein wichtiges Thema. Allerdings wird zu Unrecht der Anschein erweckt, das es sich um etwas völlig Neues handeln würde - etwa mit der Äußerung: "denn wäre das nicht endgültig eine Revolution: Wenn der Schwarm Attentäter zur Strecke bringen kann? "

     

    Im Chinanet ist das das ein ziemlich gewöhnliches Phänomen, wo kurzfristige Such- und Wut-Kampagnen ("Menschenfleischsuche" - renrou sousuo) einen Teil der gut 300 Millionen chin. Microblogger mobilisieren und korrupte Beamte, bzw. ihre Ferrari-fahrenden Söhne extrem schnell ausfindig gemacht werden...aber diese Suchkampagnen können sich auch mal schnell gegen Leute richten, die einem kleinen Kind einen Lolli wegnehmen oder zu Unrecht Sitzplätze für alte Leute belegen...

     

    Es erscheint mir aber ziemlich verantwortungslos und kontraproduktiv von den amerikanischen Behörden, uneindeutige Fotos von "Terroristen" (die wegen der Fahndung sowieso ihr Aussehen verändern) in die aufgeheizte Öffentlichkeit zu entlassen...

    Tja, in China ist der Stempel "Terrorist" ein Problematischerer...um gar nicht erst von den kürzlich getöteten "Gangstern" in Xinjiang zu reden - letztes Jahr sprengten sich in lokalen Regierungsgebäuden zwei Bauern wegen unrechtmäßigen Enteignungen in die Luft (einer der beiden riss drei Menschen mit in den Tod). Im Internet gab es für die beiden nicht wenige Sympathiebezeugungen. Aber bitte, wer weiß denn auch schon, was ein Terrorist ist?...

     

    ..."strunzdummer Schwarm" ist genial

  • M
    MiaMia

    Veröffentlichungen im Netz sind nicht nur mitunter strunzdumm. Sie unterliegen auch dem Presserecht und anderen Gesetzen. Falsche Anschuldigungen und Hetze sind und bleiben strafbar. Die Autorinne und Autoren sind verantwortlich und zur Verantwortung zu ziehen. Zumindest in Deutschland. Das technische Medium ist hier irrelevant, bestimmt aber natürlich die Umgangsweise.

    Der Wert der seriösen Presse besteht für mich darin, meine und anderer Menschen Perönlichkeitsrechte und Datenschutz zu achten und einzufordern. Es wäre gut, hier im Artikel nicht Netzartikel und Twittermeldungen etc gleich pauschal freizusprechen von solchen Ansprüchen, indem das Verhalten eben "nur" als strunzdumm markiert wird.

    Auch wenn es z.T. "nur" veröffentlichte Meinungsäußerung ist - auch hier gibt es Straftatbestände - neben dem im Artikel -sehr wichtig- hervorgehobenen unethischen Verhalten.

     

    Ich will damit nicht staatlicher Intervention das Wort reden, sondern daran erinnern, dass Menschen auch ihre Internet-Äußerungen ganz praktisch und persönlich verantworten sollen. Mit konkreten Folgen für ihr Leben, wenn sie anderes Leben beschädigen.

     

    Wenn sie nur als strunzddumm bezeichnet werden, ist das kein Rahmen für niemanden, in dem konkret über Wiedergutmachung und persönlicehe Konsequenzen geredet werden kann.

  • K
    kamischi

    Schwarmintelligenz oder blinder Herdentrieb? Es ist zwar schade, aber der Unterschied ist anscheinend kleiner als die Assoziationen, mit denen man die beiden Ausdrücke verbindet.

  • TW
    Tobias W.

    In diesem Artikel wird bis zum vorletzten Absatz bewusst der Eindruck erweckt, der zu Unrecht Verdächtigte sei nach den Anschlägen umgekommen. (Beispiel: "Einen Tag lang war [sT] einer der Boston-Bomber. Jetzt ist der indisch-amerikanische Student tot.")

     

    Selbst in besagtem vorletzten Absatz steht dann nur, man könne derzeit nicht behaupten, er habe sich wegen der Falschbeschuldigungen umgebracht. Nach derzeitiger Informationslage ist das aber sogar ausgeschlossen.

     

    Der Artikel übt berechtigte Kritik, ist dabei aber sehr manipulativ. Das fällt mir in der taz in letzter Zeit häufiger auf.

  • FR
    Frank Reich

    Traurig.

    Jedoch: Sunil wurde seit dem 16. MÄRZ(!) vermisst. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Ableben etwas mit dem "Schwarm" zu tun hat, dürfte bei der Aussage "schon längere Zeit dort befunden", gen Null tendieren.

    Gemutmaßt darf werden, inwieweit er, hätte er noch gelebt, zur Aufklärung hätte beitragen können. Es darf weiterhin gemutmaßt werden, dass gerade seine (längere) Abwesenheit verdächtig erschien. Ein Terrorist muss schließlich schon Wochen vorher untertauchen.

    Dass Sunils Verschwinden nun mit seinem Ableben, biographischerweise Suizid am wahrscheinlichsten, zusammenhängt, ist natürlich traurig.

    Aber weder dem "Schwarm" noch den Umständen ist offenkundig die "Schuld" zu geben. Es ist eine Verkettung unglücklicher Umstände, die es "nur" durch seinen nun festgestellten Tod so dramatisch und empörend erscheinen lassen. Faktisch braucht jedoch niemand den moralisch Tugenhaften spielen. ... Das ist das Leben - und das schert sich einen Dreck um Moral, Sitten, Empörungen und Empfindungen.

  • F
    Faktenstattfiktion

    "Die, die jagen sind die,

    Die klagen

    Die, die hassen bleiben die Prediger der Massen

    Im Gleichschritt

    blind verdummtes Schreien

    Stereotyp Kopien bis in die letzten Reihen

    Und schreit dann einer

    Feuer frei

    Wird durchgeladen und geschossen

    Und erst garnicht hinterfragt

    Was hat der

    überhaupt verbrochen

    Wenn die Masse das so meint

    Dann sind wir alle

    schnell dabei"

     

    Bert Brecht

  • E
    Europäer

    Name denn surprise surprise, die hochgelobte Schwarmintelligenz stellt sich als bodenlose Dummheit heraus.

    Vielleicht weil der kategorische Imperativ von vielen gepredigt und von den wenigsten gelebt wird.

    Oder weil sich der Schwarm immer den kleinsten gemeinsamen Nenner sucht.

    Oder weil der Hauptanteil des Schwarmes aus unkritischen Mitläufern besteht die den grölenden Aphatieren blind folgen.

    Dazu ein Beispiel aus der Praxis:

    Ein Schwarm verhält sich wie eine zufällige Gruppe beim "Brainstorming".

    Zu viel Energie wird mit Palaver vernichtet, die Schreihälse setzen sich in der Regel durch und die Potentiale der meisten bleiben ungenutzt weil sie sich im Chaos kein Gehör verschaffen können.

  • A
    agztse

    Yep. Wie strunzdumm der Schwarm in Deutschland ist konnte man kürzlich bei der "Aufschrei" Hysterie erleben. Schön, das nun auch der TAZ Zweifel an der Relevanz von Online Hypes kommen. Weiter so.