Bordellgasse in Minden: Rotlicht am Ende
Das Rampenloch im westfälischen Minden war lange eine Bordellgasse und galt schon im Mittelalter als verruchter Ort. Nun rollen die Bagger an.
„Man versteht das hier in der Region einfach als Synonym für einen Puff“, sagt der 72-Jährige und biegt in die Sackgasse mit ihrem Kopfsteinpflaster aus dem vorletzten Jahrhundert ein. Am Ende der Gasse sorgt links eine fünf Meter hohe Backsteinmauer für Beklemmung, rechts stehen eng aneinander die verrotteten kleinen Fachwerkhäuser, die seit dem vorletzten Jahrhundert ausschließlich als Bordelle genutzt wurden.
„Ehrlich gesagt hat mich die Debatte, was hiermit geschehen soll, ziemlich kalt gelassen“, sagt Schynol achselzuckend und schiebt sich mit einem Rucksack auf dem Rücken durch den Spalt zwischen der verdreckten Fachwerkfassade mit den zerborstenen Fensterscheiben und dem Bauschuttcontainer, der seit einigen Tagen daneben auf der kleinen Pflastersteinstraße steht.
Schon in den nächsten Tagen sollen hier dann auch die Bagger anrollen und die Häuser abreißen, um Platz für „Familien, Singles und Senioren“ zu machen. Damit verschwindet ein schmuddeliger, aber auch ziemlich einzigartiger Geschichtsort.
Früher eine Hinrichrichtungsstätte
Dass ihn das Verschwinden dieses Ortes aber wirklich völlig kalt lässt, ist dem früheren Lehrer Schynol kaum zu glauben. Dafür viel zu lebhaft und mit zahlreichen Anekdoten angefüttert schildert er die Geschichte der Straße bei diesem – seinem letzten – Spaziergang vor dem Abriss. „Den Erzählungen nach war das hier schon immer ein ziemlich verruchter Ort“, sagt er.
Direkt hinter der hohen Mauer steht noch das alte Gefängnis der Stadt aus dem 19. Jahrhundert. Aus dem 12. Jahrhundert stamme eine Quelle, die das Mindener Rampenloch als Hinrichtungsstätte für Mütter nennt, die ihre Kinder getötet hatten. Sie sollen hier lebendig begraben worden sein. „Daher auch der Name“, sagt Schynol. Ramp bedeute so viel wie Unglück, die örtliche Unglücksgrube war das hier also.
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„Und die Stadt war über Jahrhunderte eine Soldatenstadt“, sagt Schynol. Im 30-jährigen Krieg waren die Schweden hier, später bauten die Preußen die Stadt an der Weser zur Garnison aus, zwischendurch war Minden Teil des französischen Königreichs Westphalen. Bis in die 1990er war die Stadt Standort der britischen Besatzungstruppen von der Rheinarmee. „Den Militärs war klar: Es musste ein Ventil geschaffen werden“, sagt Schynol. Sexarbeit gab es auch zuvor, unkoordiniert und deshalb als „Winkelhurerei“ bezeichnet.
Dass aber gleich ein ganzer Straßenzug dieser Bestimmung zugeordnet wurde, ist ein seltener Fall. In seinem Rucksack hat Schynol einen dicken Aktenordner. Darin befindet sich auch die Kopie eines 201 Jahre alten Schreibens des Preußischen Ministers für Inneres und Polizei.
Pragmatische Preußen
Der Bitte der örtlichen Mindener Militärs, ein Soldatenbordell zu errichten, wird darin stattgegeben. Die Notwendigkeit, die Prostitution in einer Garnisonsstadt zu regeln, schien angesichts von sich ausbreitenden Geschlechtskrankheiten groß. „Durch die Legalisierung konnten Hygienekontrollen stattfinden“, sagt Schynol. Und diese pragmatische Idee funktionierte. „So war dann in der Folge auch das Rampenloch ein in der Stadt akzeptierter Ort“, sagt Schynol.
Schynol steht vor dem vordersten Haus. Zwei Eingänge, die fast direkt an den Bordstein ragen, sind mit Brettern verrammelt. Er zeigt auf die rechte Tür. „Hier arbeitete die letzte Frau des Rampenlochs“, sagt Schynol. 2018 hörte auch sie auf, aber schon seit den 90er Jahren hatte die Wirtschaftlichkeit der Sexarbeit nachgelassen. Für die Stadt war das der Moment, eine Entscheidung über die Zukunft des Areals zu treffen.
Auch wenn das Rampenloch als Schmuddelecke gilt – in die untere Altstadt mit ihrem Dom, dem historischen Marktplatz und der Einkaufsstraße, die zur Weser führt, sind es drei, vier Minuten zu Fuß. Durch den Neubau von Wohnungen für Gutverdienende will die Stadt die Ecke aufwerten. Auch im nächstgelegenen Häuserblock sind bereits Kräne und herumlaufende Bauarbeiter auf einer Großbaustelle zu sehen.
„Manche haben Wehmut, andere nicht“, sagt Schynol. Drei oder vier Jahre lang wurde in der Stadt über die Zukunft der Gasse gestritten. Ein einzigartiges Kleinod mit jahrhundertelanger besonderer Geschichte einfach so abzureißen, statt es als Denkmal zu erhalten oder zum Museum umzugestalten, sorgte auf der einen Seite für Entrüstung.
Wäre im Hinblick auf Mindens frühere „führende Position in Sachen Seuchenbekämpfung“, wie es in einem lokalen Meinungsbeitrag hieß, es nicht eine wunderbare Chance gewesen, der ansonsten weitgehend unbeachteten Stadt ein besonderes Image zu verpassen, das auch touristisch anlockt? „Das stimmt natürlich alles“, sagt Schynol. „Aber es stimmt auch: Das wäre sicher nicht wirtschaftlich gewesen.“ Minden, im ansonsten prosperierenden Ostwestfalen, ist eine ziemlich arme Stadt.
Bordellgasse als Freilufttheater
Dass Wehmut entstehen könnte, liegt aber nicht zuletzt an Schynols eigener Arbeit: Er hatte den Ort im vergangenen Vierteljahrhundert mit kultureller Bedeutung aufgeladen. Während er vor der rechten Tür des vordersten kleinen Hauses stehen bleibt, muss er plötzlich erneut grinsen. „Hier direkt hinter der Wand war der Arbeitsbereich der Dame, und dahinter gab es noch ein kleines Zimmer, in dem sie rauchte und Fernsehen schaute“, sagt er. Und dort hinten habe er mal gesessen. „Da habe ich die Verhandlungen mit dem Stadtmarketing und einem Sponsor für unser Theaterstück geführt.“
2008 verwandelte Schynol das Rampenloch in ein Freilufttheater. Mitte der 90er hatte er die Tucholsky-Bühne an seiner damaligen Schule gegründet, anfangs als Ensemble aus Lehrerinnen und Lehrern. Heute ist es ein wichtiger Akteur der lokalen Kulturszene, als Verein mit 500 Mitgliedern organisiert. Am Ende der Sackgasse stand damals die Bühne, bis vorne zur Einfahrt saß das Publikum an mehreren Sommerwochenenden auf dem Kopfsteinpflaster, um sich das Theaterstück über Mindens Stadtgeschichte anzusehen.
Die Geschichte siedelte Schynol als Autor des Stücks natürlich in einem Bordell hier im Rampenloch an. Es war übrigens eine Wiederaufnahme, ursprünglich hatte Schynol das Stück bereits zehn Jahre zuvor für das 1.200. Stadtjubiläum geschrieben. In seinem Aktenordner hat er Dutzende auch überregionale Pressetexte gesammelt, die vom Erfolg des Stücks in den beiden Jahren berichten.
Ihn packe trotzdem keine Wehmut, sagt Schynol erneut, als er sich wieder am Bauschuttcontainer vorbeizwängt. Er klingt zwar überzeugend, doch noch immer will man es ihm nicht so richtig glauben. Erst zuvor war er vor der Tür eines der mittleren, besonders niedlichen, aber maroden Häuser stehen geblieben. „In Wahrheit war das hier gar kein Rotlichtviertel“, sagt er und zeigt grinsend auf eine alte Lampe, die hier wie vergessen hängt – mit einer gelben Glühbirne darin. Die seien in der ganzen Straße gelb gewesen – noch so eine historische Besonderheit.
Mit den Baggern, die in wenigen Tagen schon anrollen dürften, ist die Farbfrage aber nun wohl auch egal. Und Sexarbeit werde es in der 80.000-Einwohner-Stadt bestimmt noch anderswo geben. Wer weiß. „Vielleicht geht’s ja jetzt einfach wieder zurück zur Winkelhurerei“, sagt Schynol.
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