Bollywood: Der kriminelle Superstar
Der Bollywood-Schauspieler Sanjay Dutt muss wegen illegalen Waffenbesitzes für sechs Jahre hinter Gitter - seiner Popularität schadet das nicht.
Die Bilder laufen auf allen indischen Nachrichtenkanälen: Hunderte von Menschen stehen von dem Tor des Yerwada-Hochsicherheitsgefängnisses im westindischen Pune und jubeln. Ein leicht untersetzter Mann Ende 40 tritt in den Hof. Er schüttelt den anwesenden Polizisten die Hand, manche von ihnen umarmt er. Freude steht in den Gesichtern, es wird viel gelacht: Sanjay Dutt, einer der größten Filmhelden des indischen Kinos, ist wieder frei. Es ist die Topmeldung des Tages.
Manche der Beamten könnten die Aufnahmen den Job kosten: Schon einen Tag später werden zwei von ihnen vom Dienst suspendiert, gegen sieben weitere werden Dienstaufsichtsverfahren eingeleitet. Der zuständige Landesminister bezeichnet die herzige Abschiedsszene als "sehr unangebracht." Denn Dutt ist erst vor fünf Wochen von einem Antiterror-Sondergericht in Bombay zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte sich 1993 in Bombays Unterwelt Waffen besorgt. Seine Kontaktleute töteten kurze Zeit später bei einer verheerenden Anschlagsserie hunderte von Menschen. Nur wegen eines Formfehlers ist der Schauspieler gegen Kaution auf freiem Fuß - vermutlich nur für wenige Wochen.
Rückblende: Ende 1992 steht Indien unter Schock. Fanatische Hindus haben im nordindischen Ayodhya eine Jahrhunderte alte Moschee dem Erdboden gleichgemacht. Überall im Land gehen Muslime auf die Straße. Es kommt zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei. Manche der aufgebrachten Muslime töten wahllos Hindus, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Nur eine Woche später ziehen Anhänger der rechtsextremen Hindupartei Shiv Sena durch die Straßen Bombays und üben mörderische Vergeltung: Sie plündern, vergewaltigen, übergießen Menschen mit Benzin und verbrennen sie bei lebendigem Leib. Der Krieg auf den Straßen der Megastadt fordert mindestens tausend Menschenleben. Die Hindu-Extremisten haben sich die Oberhoheit über die Straßen der indischen Finanzmetropole zurückgeholt.
Bis zum 12. März 1993. Auf belebten Plätzen überall in der Stadt explodieren fast zeitgleich 13 Bomben. Es ist die schwerwiegendste Terroranschlag, den Indien je gesehen hat: 257 Menschen sind tot, über 700 verletzt. Die Drahtzieher stammen aus Bombays muslimisch dominierter Unterwelt. Dawood Ibrahim, der gefürchtetste aller Gangerbosse, hat aus seinem Exil im pakistanischen Karatschi gezeigt, wer in Bombay das Sagen hat.
Und ausgerechnet von Leuten aus dessen Umfeld hat sich Dutt ausrüsten lassen. "Ich habe mir die Waffen besorgt, um meine Familie zu beschützen", sagt er später bei der Polizei aus. Von den geplanten Anschlägen habe er nichts gewusst. Er gehört zu den hunderten von Verdächtigen, die festgenommen und befragt werden. Seine Kontakte zu den Attentätern bringen ihn für 15 Monate in Untersuchungshaft. 1995 kommt er gegen Kaution zum ersten Mal frei.
Das Verfahren gegen die Beschuldigten der Anschläge dauert fast 14 Jahre. Die Anklageschrift ist 10.000 Seiten lang, die Beweisliste umfasst 35.000 Seiten. 99 Menschen werden verurteilt, zwölf von ihnen zum Tode. Sanjay Dutt ist der letzte Angeklagte in einem der größten Verfahren der indischen Geschichte, als er Ende Juli vor dem Sondergerichts in Bombay erscheint. Richter Pramod Kode hat an diesem Morgen schon zwei Urteile wegen illegalen Waffenbesitzes ausgesprochen. Im Saal sitzen viele Journalisten und Freunde des Schauspielers. Dutt lächelt und unterhält sich mit ihnen. Der Superstar hat in Bombay einflussreiche Freunde. Was soll da schon geschehen?
Der Schauspieler wirkt ruhig, als er in den Zeugenstand tritt. Richter Kode verliest das Urteil. In allen Anklagepunkten, die den Anschlag betreffen, spricht er den Filmstar frei. Dutt hört es sich an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann kommt der Richter zu dem Anklagepunkt des illegalen Waffenbesitzes. Das Urteil: schuldig. Die Strafe: sechs Jahre Haft, keine Bewährung.
Dem Schauspieler steht das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Er sagt, er sei der einzige Verdiener der Familie, er bittet um Gnade. Im stehen Tränen in den Augen: "Ich habe einen Fehler gemacht." - "Jeder macht Fehler", entgegnet der Richter. Aber das "kriminelle Element" in Dutt sei unheilbar. Dann lässt er den Schauspieler abführen.
Die Fans vor dem Gericht und die Freunde des Schauspielers im Gerichtssaal sind schockiert. Der Regisseur Tanuja Chandra sagt: "Ich habe absolut keinen Zweifel, dass er nichts mit den Terroranschlägen zu tun hatte. Er ist einfach nicht der Typ dafür." Dutts Verteidiger Satish Maneshinde erklärt: "Sanjay Dutt ist ein starker Mann. Er hat bisher jede Krise bewältigt. Das ist eine dieser Krisen."
Die Medien berichten in aller Breite über die erste Nacht des Stars im Gefängnis. Ein Freund von Dutts Zellengefährten sagt, der Schauspieler sei oft in Tränen gewesen. Er habe nichts gegessen, ihm sei in der nicht klimatisierten Zelle zu heiß, und er finde die Gefängniskleidung und sein Bett unbequem. Der Schauspieler habe andere Gefängnisinsassen darum gebeten, "für ihn zu beten".
Die Anwälte des Superstars suchen in der Zwischenzeit nach einem Weg für ihren Mandanten aus dem Gefängnis. Sie werden fündig: Das Sondergericht hat es versäumt, Dutt eine Kopie des Urteils zukommen zu lassen. Vor dem Obersten Gericht des Landes stellen sie einen Eilantrag, den Schauspieler gegen Kaution freizulassen, bis er das Urteil zugestellt bekommt. Nach etwas mehr als drei Wochen kommt Dutt vorübergehend vorläufig frei.
Alle Nachrichtensendungen berichten darüber, alle Zeitungen haben es auf den Titelseiten. Denn Sanjay Dutt ist einer der populärsten Schauspieler des Landes. 1981 hievte ihn sein Vater, der Schauspieler Sunil Dutt, in seine erste Hauptrolle. Damals war Sanjay Dutt 22 Jahre alt. In über hundert Filmen hat er seither mitgespielt, meistens in der Rolle von Bösewichten und Gangstern. Heute kennt ihn in Indien jedes Kind. Dutt ist ein Superstar.
Doch immer war er auch eine der kontroversesten Figuren des indischen Kinos. Schon früh berichteten die Medien über seine Drogensucht. In einer Entzugsklinik in den USA lernte er seine spätere Frau, Richa Sharma, kennen. Die Ehe dauerte nicht lange: Sharma starb nach nur wenigen Jahren an einem Hirntumor. Wieder kam Dutt in die Presse, als er das Sorgerecht für seine Tochter wegen seines Suchtproblems an die Eltern seiner verstorbenen Frau verloren hatte. Die meisten Filme, in denen er mitspielte, floppten in dieser Zeit. Immer öfter drangen Berichte über Drogen- und Alkoholexzesse des Schauspielers an die Öffentlichkeit.
Seinen endgültigen Ruf als Bollywoods Bad Boy brachte ihm der Mitschnitt eines Telefonats aus dem Jahr 2001 ein. Auf der nur wenige Minuten langen Aufnahme ist zu hören, wie sich Dutt mit Chotta Shakeel unterhält, dem anderen großen Gangsterboss Bombays, der im Ausland untergetaucht ist. Vorwürfe machten die Runde, der Schauspieler habe Geldwäsche betrieben für die Unterweltgruppe, der Morde, Entführungen und Erpressungen vorgeworfen werden.
Doch seine Fans standen immer hinter dem 48-Jährigen. Dabei beeinflussen sich Realität und Fiktion in einer Weise, wie es wohl nur bei einem indischen Filmstar möglich ist: Die Aura aus Sex und Verbrechen, die zum Markenzeichen seiner Rollen geworden ist, scheint sich auf den realen Menschen Sanjay Dutt übertragen zu haben. In den vergangenen Jahren hat er häufig Gangster gespielt, die trotz ihres kriminellen Wesens Gutes bewirken. Auch Dutt hat bei seinen Fans den Ruf, trotz seiner kriminellen Verstrickungen ein besonders guter Mensch zu sein. Seit seiner vorübergehenden Haftentlassung pflegt er das Image des großherzigen geläuterten Bösewichts. Vor seiner Villa in Bombays noblem Stadtteil Pali Hill erklärte er den wartenden Fans und Journalisten, die Liebe zu seinem Land sei ungebrochen. Er vertraue der indischen Justiz.
Später zeigten Fernsehaufnahmen den Schauspieler bei einem Tempelbesuch. Mit seiner Schwester Priya trat er in einer Talkshow auf. Sie erzählte den Zuschauern, wie gerührt sie gewesen sei, als ihr Bruder ihr Gutscheine über zwei Rupien aus dem Gefängnis gegeben habe. Er habe sie gesammelt, um am Rakhi-Feiertag am vergangenen Mittwoch, dem indischen Tag der Geschwister, ein Geschenk für sie zu haben. Dutt saß meist schweigend daneben und hatte Tränen in den Augen. Er sagte, er werde arbeiten, bis er wieder ins Gefängnis muss. In zwei Filmen, die gerade gedreht werden, hat der Schauspieler Rollen. Das sei er seinen Fans schuldig.
Wenn es so weit ist, wollen seine Anwälte in Berufung gehen und eine Bewährungsstrafe für ihn herausholen. Wie auch immer dieses Verfahren für Bollywoods Bad Boy ausgehen sollte: Das Ende seiner Laufbahn bedeutet es mit Sicherheit nicht. Selbst Richter Kode, der Sanjay Dutt verurteilt hat, hat nach dem Urteil zu ihm gesagt: "Sie haben es in der Filmindustrie bemerkenswert weit gebracht." Nach dem Ende der Haft werde er seine Karriere ganz sicher fortsetzen können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid