Boko Haram in Nigeria: Das Kriegstrauma im Kopf
Die brutale Islamistenarmee ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Was aus der Gruppe wird, ist offen. Aber ihre Opfer bleiben verschwunden.
Die Familie kommt aus Gwoza an der kamerunischen Grenze. Bei der Flucht vor der Terrormiliz Boko Haram wurde sie getrennt. Die 27-jährige Jummi, die ihren Familiennamen lieber nicht nennen mag, schlug sich bis in Nigerias Hauptstadt Abuja durch und lebt seit mehr als zwei Jahren im Lager New Kuchigoro am Rande der Glitzerhauptstadt mit ihren großen Hotels, Einkaufszentren und Luxusrestaurants. Jummi hat all das nie gesehen. Ihr kleines Zimmer hat sie aus Kartons und Plastiktüten gebaut. Wenn es regnet, wird der Boden zur Schlammwüste.
Eine Nachricht aus der Heimat kam vor ein paar Wochen. „Ich weiß, dass meine Mutter und Gloria am Leben sind“, erzählt die junge Frau und atmet tief durch. „Sie sind in Maiduguri, aber die Lage ist schlecht. Einmal hatte meine Mutter 25 Tage lang kein Essen.“ Wo die heute vierjährige Hauwa ist und wie es ihr geht, daran möchte sie lieber gar nicht denken. Als Kämpfer der Miliz in ihr Dorf kamen, war Hauwa gerade bei der Großmutter. Der gelang es nicht, das Kind bei der Flucht aus dem Haus zu holen. Seitdem ist das kleine Mädchen verschwunden.
Über verschwundene Kinder wie Hauwa spricht im Stadtzentrum von Abuja niemand. An Fahrt gewonnen hat stattdessen die Diskussion um die 218 entführten Mädchen von Chibok – seit April 2014 aus ihrer Schule in der Provinz Borno gekidnappt. Zum ersten Mal hat Boko Haram indirekt Verhandlungsbereitschaft angekündigt: Die Miliz will die Schülerinnen gegen inhaftierte Mitglieder austauschen.
Niemand weiß, wie stark manche Gegenden vermint sind
Idayat Hassan, Leiterin des Zentrums für Demokratie und Entwicklung (CDD), hält einen Dialog für realistisch und notwendig. „Rein militärisch lässt sich die Gruppe nicht besiegen.“ Zwar hat Nigerias Armee Erfolge verbuchen können. Es sind längst nicht mehr, wie noch Anfang 2015, ganze Regionen von Boko Haram besetzt. Auch kommt es nur noch selten zu Selbstmordanschlägen.
Doch in Borno sind weiterhin zahlreiche Straßen außerhalb Maiduguris nicht zugänglich. Hilfsgüter außerhalb der Provinzhauptstadt zu verteilen oder medizinische Versorgung zu leisten, gilt als massive und riskante logistische Herausforderung. Niemand weiß zum Beispiel, wie stark die Gegenden, aus denen Boko Haram vertrieben ist, vermint sind.
Wichtig ist Idayat Hassan: Längst nicht alle Kämpfer sind blutrünstige Terroristen. „Einige wurden selbst entführt und gezwungen, für Boko Haram zu kämpfen“, sagt Hassan.
Wie groß die islamistische Gruppe noch ist, lässt sich kaum beziffern. „Sie ist jedenfalls nicht mehr in der Lage, einen großen Kampf zu führen“, sagt Hussaini Abdu, Landesdirektor von Plan International. Er geht davon aus, dass nur noch ein harter Kern übrig ist. Da die Armee Boko Haram stark zurückgedrängt hat, ist es kaum noch möglich, Dörfer zu überfallen und so neue Anhänger zu rekrutieren. Außerdem fehle der Gruppe Geld.
Die Selbstzerfleischung von Boko Haram
Im Moment zerfleischt Boko Haram sich vor allem selbst. In der Öffentlichkeit wurde Anfang August bekannt, dass der „Islamische Staat“ (IS) – ihm hatte sich Boko Haram 2015 angeschlossen – einen neuen Chef von Boko Haram ernannt habe: Abu Musab al-Barnawi, etwa 30 Jahre alt und Sohn des 2009 in Maiduguri von der Armee getöteten Gründers Mohammed Yusuf. Yusufs Tod hatte Boko Haram damals in den Untergrund getrieben.
Al-Barnawi tauchte nach einem Massaker in Baga im Januar 2015 erstmals als Sprecher der Gruppe auf. Nun soll er den Chef Abubakar Shekau abgelöst haben und wird als „der Gute“ im Vergleich zu Shekau dargestellt – zynische Propaganda, findet Hussaini: „Was soll am IS gut sein?“
Shekau kündigte indirekt an, dass seine Fraktion die richtige sei, um Gespräche zu führen. Sie gilt als die stärkere. Am Wochenende hat auch Nigerias Präsident Muhammadu Buhari Dialogbereitschaft signalisiert, notfalls über einen Mediator. Der Druck, die Chibok-Mädchen zu befreien, wird immer größer.
In New Kuchigoro hört auch Jummi manchmal davon. Aber nach Jahren im Flüchtlingscamp weiß sie nicht mehr, woran sie noch glauben soll. Sie ist nicht einmal sicher, ob ein Dialog auch ihre kleine Hauwa zurückbringen würde. „Ich weiß es einfach nicht.“
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!