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Bloß nicht zu viele Fragen stellen

Matthias Jügler beschreibt in „Die Verlassenen“ eine Jugend nach 1989 im Banne von Stasibespitzelung

Von Claudia Ingenhoven

Was Matthias Jügler in diesem Roman erzählt, ist tatsächlich geschehen. Die Geschichte wurde ihm von Freunden seiner Familie anvertraut. Jahrelang hat er sich mit dem Stoff beschäftigt, bevor er eine literarische Form für seinen zweiten Roman fand und die Figuren ein Eigenleben bekamen. Jügler, aufgewachsen in Halle, hat am Leipziger Literaturinstitut studiert.

In Halle lebt auch Johannes mit seinem Vater, die Mutter ist gestorben, als er fünf war. Der Junge hat gelernt, sich mit den Stimmungsschwankungen des Vaters zu arrangieren. Zum Glück hat der Vater Freunde, mit denen er sich trifft, im Garten lesen sie sich vor. Am liebsten mag Johannes Wolfgang. Der ist wie ein Onkel, gut gelaunt und hilfsbereit. Als er plötzlich nicht mehr auftaucht, sagt der Vater nur: umgezogen.

Johannes wagt nicht nachzufragen, auch nicht, als der Vater ihn eines Tages bei der Großmutter abliefert. Er ist gern bei ihr, aber dass der Vater auf Dienstreise geht, klingt falsch. Ist es auch – der Vater kommt nicht zurück. Wieder arrangiert sich Johannes. Er zieht sich von seinen Mitschülern zurück. Matthias Jügler bringt uns diesen verschlossenen Jungen sehr nahe. Wir erfahren, wie das mütterliche Kopfkissen roch, wie sich die Muskeln nach einer Nacht auf der Klappcouch im Garten angefühlt haben. Dabei bleibt der Blick auf das verlassene Kind distanziert, nie mitleidig. Das gelingt Jügler, indem er Johannes, den Ich-Erzähler, aus der Erinnerung über seine Kindheit sprechen lässt. Er ist jetzt Ende 30, ein Verwaltungsangestellter, der froh ist, dass ihn seine Arbeit unterfordert.

In einem Bücherkarton seines Vaters hat er den Brief einer Norwegerin gefunden. Sie schrieb, kurz bevor der Vater verschwand, dass sie in einem Deutschen ihre große Liebe gefunden hatte – bis sie in der Garage die Dokumente entdeckt, die ihn als Stasispitzel auswiesen. Das war Wolfgang, der beste Freund seines Vaters. Johannes reist nach Norwegen und findet die verbitterte Frau, immerhin händigt sie Johannes alle Dokumente aus, die Wolfgangs zerstörerische Tätigkeit belegen. Und sie gibt ihm dessen Adresse; ganz in der Nähe lebt er mit Frau und Kindern.

Im Buch sind diese Dokumente abgedruckt. Matthias Jügler hat sich eine alte Erika-Schreibmaschine besorgt und auf Papier getippt, wie es die Stasi benutzt hat. Der Wortlaut ist Dokumenten entnommen, die Jügler eingesehen hat, inklusive der handschriftlichen Verpflichtungserklärung. Was den Roman vor allem lesenswert macht, geht über die Geschichte von Bespitzelung und Mord hinaus. Jügler erzählt, oft zwischen den Zeilen, welche Spuren Verrat noch bei den Kindern der Verratenen hinterlässt – wie Feinstaub, der das kollabierte System überdauert hat. Johannes erlebt auch als Erwachsener, dass ihm Menschen abhanden kommen. Statt nach dem Warum zu fragen, bleibt er sprachlos. An seiner Figur wird spürbar, was die Soziologie längst über Erfahrungen von Flucht und Vertreibung untersucht hat: Sie werden an die nächste Generation weitergegeben. Matthias Jügler lässt seine Figur wachsen, auch deshalb möchte man unbedingt wissen, wie es weitergeht. Von seinem Erkundungsbesuch in Norwegen hat Johannes einen Spruch mitgebracht, den er anfangs als Kitsch aus dem Poesiealbum abgetan hat. Inzwischen mag er ihn: Hinter den Wolken ist der Himmel immer blau.

Matthias Jügler: „Die Verlassenen“. Penguin Verlag, München 2021, 176 Seiten, 18 Euro

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