: Bitte komplettieren Sie selbst
■ „Wahrscheinlich werden sie wieder das Falsche korrigieren...“
Gabriele Goettle
Zwischenstation:
Auf dem Ettersberg im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald lag neben dem Stumpf der Goethe-Eiche ein angebissenes Brötchen, irgendwer hat es später auf den Gedenkstein für die ermordeten Russen gelegt. Nachdem wir dann in Weimar von einer Metzgerin in ihre Wurstküche eingeladen worden waren, auf der Demonstration einen kleinen Block Autonomer mit der Losung „Nazis raus“ erspäht hatten, später dann in Halle wegen Industrienebels die gesuchte Adresse nicht finden konnten, fuhren wir weiter nach Köthen, um einen LPG-Leiter zu besuchen.
29.November 1989 Köthen
Es herrscht schon vorweihnachtliche Stimmung, auf dem alten Marktplatz mit den renovierten Hausfassaden werden Adventsgestecke verkauft, in den Fenstern hängen Leuchtsterne und Lichterbögen. Hier im Schloß hat Bach 1721 die Brandenburgischen Konzerte komponiert. Das Schloß steht noch, umgeben von einem leicht verwilderten Park. Ab und zu finden im Saal Konzerte statt, zu denen sich die Besucher warm anziehen müssen. Auch was die Akustik betrifft, ist der Kunstgenuß nicht ungetrübt. Kaum erklingen die ersten Töne, erhebt sich im Hundezwinger der Volkspolizei nebenan ein gewaltiges Heulen, das erst endet, wenn die letzte Note gespielt ist. Bei bedeutenderen Veranstaltungen und Gästen werden die Tiere für eine Stunde ausgeführt.
Der LPG-Leiter wohnt mit Gattin und Schwiegermutter auf dem ehemaligen Hof, in den er nach dem Krieg eingeheiratet hat. Es ist alles noch vorhanden, nur stehen im großen Schweinestall heute Lastwagenmotoren und andere Ersatzteile, ebenso im Kuh- und Pferdestall. In der riesigen hohen Scheune mit freitragender Dachkonstruktion, in deren Holzverbindungen kein Nagel steckt - wie die ehemalige Bäuerin stolz hervorhebt -, stehen defekte Fahrzeuge vom „Kraftverkehr“, der hier sein Lager aufgeschlagen hat. Lediglich im Hühnerstall sind noch Hühner. Der Hof ist längst von der Stadt umzingelt worden, das umliegende Land bebaut. Hinter der Scheune hat sich in der alten Schokoladenfabrik eine chemische Reinigung niedergelassen und verpestet die Luft. Und so stehen die Gebäude - Ställe, Futterkammern, Scheeinefutterküche, Waschhaus, Milchküche und Scheune - heute sinnlos beieinander und zerbröckeln allmählich. Wir sitzen mit den beiden Frauen in der Stube. Es ist die Wohnstube, in der sie jeden Abend beieinandersitzen, jede hat ihren Platz, die alte Bäuerin links am Kopfende des Tisches, der Schwiegersohn ihr gegenüber, dazwischen die Tochter. Nebenan liegt die gute Stube, in der man abends die Nachrichten anschaut und ab und zu einen Spielfilm.
Die alte Bäuerin erzählt in weichem Sächsisch aus ihrem Leben. Der Mann ist nicht aus dem Krieg zurückgekommen, da hat sie mit den Eltern zusammen mühsam den großen Hof bewirtschaftet, die kleine Tochter mußte schon früh mitarbeiten. Später hat die dann den Horst geheiratet, der von der Landwirtschaft viel verstand, und so ist es ihnen gerade noch gelungen, an der Pleite vorbeizukommen. Es hat aber nichts genutzt, weil man in die LPG mußte. Als dann mit der industriellen Tierproduktion begonnen wurde, waren die großen Ställe nicht mehr modern genug und standen leer, bis der „Kraftverkehr“ sie als Lager nutzte. Nun bekommt die Bäuerin 330 Mark Rente, dazu 50 Mark Witwenrente vom Mann und ab Dezember weitere 40 Mark Erhöhung. „Das alles für ein langes und arbeitsreiches Leben voller Plagerei.“ Sie hat eine Hüftgelenksarthrose und geht an Krücken.
Die Tochter ist seit fünf Jahren berufstätig, vorher hatten sie noch ein paar Schweine und den großen Garten. Zwei erwachsene Söhne studieren. Sie selbst arbeitet in der Verwaltung der Ingenieurhochschule und verbucht, täglich fünf Stunden, die Ausgaben und Einnahmen. 379 Mark bekommt sie monatlich netto. Dazu 15 Urlaubstage im Jahr, jedoch nicht den monatlichen Haushaltstag, den bekommen nur Frauen, die voll arbeiten. Mutter und Tochter sind ein eingespieltes Team, verstehen sich gut, teilen die Hausarbeit. „Der Horst ist ja meistens nich zu Hause, viel helfen kannner da nich, aber er macht immer den Hund“, sagt Margot, die Tochter.
Der LPG-Leiter Horst kommt nach Hause, die Katzen flüchten unter den Tisch. Er tritt ein wenig polternd auf, ist der Stimme und dem Habitus nach dem Schauspieler Gerd Fröbe ähnlich. Er begrüßt uns herzlich und sinkt seufzend auf den Stuhl.
„Ach, war das heut wieder ein Tag, na ich kann euch sagen. Wir ham ne Diskussion geführt, da gings um den Stoph, den Mittag und alles. Wie die leben, was sie für Privilegien sich angeeignet ham, ich sage: na was soll sein, das interessiert mich doch gar nicht, schlimmer ist doch, was sie politisch gemacht haben, die Verbrecher. Solln sie meinethalben sechs Saunas haben, wenn sie nur das Richtige für unser Land gemacht hätten.“
„Das Parteiabzeichen, das tragen sie jetzt im Ohr“, sagt Margot zufrieden, „weil ihnen das Wasser bis zum Halse steht.“ Allgemeine Erheiterung. „Ne, aber mal im Ernst“, fährt Horst fort, „die fragen mich heute: wo willste nun eigentlich hin, du mußt doch auch ne politische Meinung haben. Ne hab ich nich und paßt ma uff, sag ich, die Weimarer Republik hat man nich hingekriegt, dafür ein Drittes Reich und als Adolf den Krieg verloren hat, wollte miteimal niemand dabeigewesen sein, dann ham se sich hier alle aufs Volk gestürzt, um es zu regulieren. Da hats geheißen nie wieder Waffen, und alles mit dem Volk, durch das Volk, für das Volk; Sozialismus, Freiheit, Menschenwürde usw., und was war? Die, vor denen ihr gestern alle das Maul gehalten habt, sin heut eine Bande Verbrecher. Da verlangt ihr, daß ich was mitmache? Mit mir kann keiner rechnen, keine Partei! Dann mein Chef, der kommt in mein Büro und sieht den Honecker und sagt: na, der is ja auch noch da, ich denk, der soll weg? Da sag ich zu ihm, ne, mein Lieber, so nich, der bleibt da. Ich bin nich für den schnellen Abwasch. Ihr habt euch alle unter seinen Rockschößen gesonnt, gewärmt, versteckt und dicke gemacht und nu soll ich ihn wegtun, damit ihr ihn nich mehr seht? Mit mir nich!“
„Bei uns is Honecker runter und Stoph auch“, sagt Margot, „und wie isses mit Sindermann, hab ich gefragt. Der soll auch weg. Kommen denn nu welche von Krenz, frag ich, aber die sagen, erst mal kommt nichts. Sie können was eigenes hinhängen, wennse wollen.“
„Hängste mich auf“, empfielt Horst und lacht dröhnend, „also mein Chef, is natürlich in der Partei, wird von allen, die ausgetreten sind, oder auch nicht drin waren, jetzt fertig gemacht und hat einen schweren Stand in der LPG. Da sag ich zu ihm: nu höre mal, ob die rot oder lila bist, das ist von mir aus gesehen deine Sache, aber worauf es jetzt ankommt, was jetzt gefragt ist, du bist verantwortlich für die Betriebe und alles, dafür, daß es nich zusammenbricht, daß wir einen vernünftigen Konsens finden, wir müssen alles tun fürs Weiterbestehen des Betriebes und des Staates, sonst laufen uns die Menschen alle weg. Sagt der: hm, hm... das hätt ich gar nicht gedacht von einem Schwarzen.“
Die beiden Frauen gehen in die Küche und richten das Abendessen, Horst holt Bier und deckt den Tisch, dabei weitererzählend: „Ich sag: du wirst dich wundern, ich bin für eine autonome DDR, ich halte nichts vom Anschluß, und dann will ich dir nochwas sagen, was dich vielleicht wundern wird, ich bin nicht der Meinung, daß man dem Sozialismus nu keine Chance mehr einräumen soll, aber von meiner Warte her muß man ihn ändern. Und das sage ich, der ich sehr unter euch gelitten habe bei allem, was ihr mit uns gemacht habt die ganzen Jahre. Da war er ganz still und sagt: Jetzt merk ichs erst, ich kenne dich gar nicht. Na, der Mann war ganz fertig. Ich hab das fast 30 Jahre hinter mir.
Wir mußten 1960 in die Kolchose rin, und ich gab gesagt, ne, auf andrer Leute Acker geh ich nich, nur über meine Leiche! Da war der frühere Kolchosvorsitzende - ist lange tot - und sagt zu mir: Tu mir nen Gefallen, ich hab schon genug Ärger hier, geh in die Gärtnerei meinetwegen und mach dort, was du kannst. Ich wollte ja eigentlich lieber LKW fahren, aber gut, ging ich in die Gärtnerei. Hatte freie Hand, sie ham mich in Ruhe gelassen. Ich möcht mal sagen, wenn das in unsrer sozialistischen Wirtschaft alle so gemacht hätten, dann wärs heute anders. Ich bin ja gar nich gegen die LPG und alles, wenns nur richtig gemacht wird. Aber die Bürokraten, mit der höheren Bildung, die sitzen am Schreibtisch, keine Ahnung von nischt, und machen dir das Leben zur Hölle. Ich war nie inner Partei, was ham sie mich genötigt, aber nich ich! Trotzdem, menschlich ham wir hier zusammengehalten. Das versteht kein Mensch, was ich mit den Roten zusammengearbeitet hab in dem Betrieb, es hat mächtig gekracht, und dann gings wieder. Die Sache is aber die, daß sowas nich spurlos an der Gesundheit vorbeigeht, nich an meiner, nich an der von den andern.“
Nach dem Essen schauen sich Mutter und Tochter unseren DDR -Kulturführer an, sie kennen die Geschichten von Horst zur Genüge, wir hingegen möchten mehr hören. Er läßt sich nicht lange bitten:
„Wißt ihr, die Geschichte macht so viele Fehler, die du als Einzelner gar nich alle vorhersehn kannst, bloß, du mußt halt im Rahmen deiner winzigen Möglichkeiten - und da werdet ihr vielleicht über mich lachen - versuchen, das Schlimmste abzuwenden. Und nu geht mir das unentwegt brennend heiß im Koppe rum, dieses Problem, wie kann man verhindern, daß das Profitdenken alles kaputtmacht. Man kann doch ein Land, das 40 Jahre in eine solche Richtung marschiert is, nich einfach dem Westen zuschlagen, oder man musses so machen wie Hilde Benjamin, dann werden die Köppe rollen, ob dann 50.000 oder 100.000 verschwinden, ob wir die verbrennen oder was, egal, die kann man vernachlässigen, die kommen dann nich mehr mit, der Rest schafft es und wird wie ihr.
Es gibt ja viele, die in der SED rumgerannt sind, kleine Leute, die haben daran ehrlich geglaubt, die trifft es jetzt am schlimmsten. Und die anderen, die Pfeifenheinis, denen es egal is, wo sie ihre Karriere machen, die triffts genauso. Da laufen sie jetzt rum draußen und suchen Arbeit. Unser Kreisleiter, niemand will ihn einstellen, er traut sich schon gar nich mehr anfragen, und das werden immer mehr werden, die ganze Stasi wird ankommen und betteln, ja die nimmt doch niemand auf und die können ja auch nichts! Das sind doch unhaltbare Zustände!
Ich hab mal die Biographie von Henry Ford gelesen, manche Sachen sind da ja richtig gut. Und ich sag euch was, nur wirklich große Unternehmerpersönlichkeiten können den Karren noch aus dem Dreck ziehen. Ich bin für einen Sozialismus von rechts. Ich will das Kapital, aber es soll soziale Verpflichtung haben. Der Unternehmer muß das Schiff lenken und wissen, wos hingeht, den Arbeitern solls fast zur Hälfte gehören, also 49 Prozent. 51 Prozent muß der Unternehmer als Majorität in den Händen behalten, damit er handeln kann. Eine Zukunft kann es nur geben, wenn es den Massen gut geht und die Anteil haben an ihrem Betrieb.
Das wird in den nächsten zehn Jahren brandaktuell werden. Man sieht nun, der Kapitalismus hat sich durchgesezt, aber das sage ich euch, die Unternehmer werden genauso untergehen wie der Kommunismus, wenn sie nicht umdenken lernen. Denn jetzt schließt sich ja der Kreis, es werden immer mehr soziale Probleme durch die technische Entwicklung entstehen, weil, wers hat, ist ja der Herr. Sagen wirs doch, wies is, wir ham dann die Automatisierung und die Massenarbeitslosigkeit.“ Ich frage dazwischen: „Und wo ist dann dein Unternehmertum mit der sozialen Verantwortung?“
Er darauf: „Nu laß mal, es is doch so, da müssen sich jetzt Menschen aufmachen und nich nur bei euch, sondern in der ganzen Welt, und müssen begreifen, daß das Sozialprodukt neu geordnet und neu verteilt werden muß. Da wird keine Rechte mehr gebraucht und keine Linke. Bezeichnet mich meinetwegen als Spinner, aber es gibt keinen anderen Weg. Die Geschichte entwickelt sich ja immerfort weiter und überlegt mal, was wir heute für Veränderungen haben in der Welt, davon ham die Arbeiter früher nich mal zu träumen gewagt.“
Ich werfe ein: „Die Unternehmer schon...“
„Richtig“, sagt er, „aber das is was jetzt is, das andere müssen sie erst noch lernen, vielleicht unter Druck. Denn guckemal, bei euch, die Wohlstandsgesellschaft, das bequeme Leben, das ihr habt, da merkt ihr doch gar nich, wie das Leben ist. Wir hier merken das, weil wir von so vielen Kleinigkeiten abhängen, die einem das Leben erleichtern könnten, wenn man sie hätte. Um jeden Dreck müssen wir uns ständig Gedanken machen. Gut, es gibt Völker, denen gehts schlechter, bloß, das können wir doch sehen, daß euer System nich geht und unsres auch nich. Wir werden jetzt alle eine Übergangsphase erleben, mag sein, daß es lange dauert und hart wird, aber danach wird es anders werden, wirds einen vernünftigen Ausgleich geben für alle auf der ganzen Welt; und das werden die Unternehmer sein, die das auf die Beine stellen, in Europa und überall.“ Elisabeth schaut den Horst forschend an und fragt bedächtig: „Jetzt sag mir mal ganz ehrlich, glaubst du wirklich an das, was du sagst?“
In seinem Gesicht gehen erschütternde Veränderungen vor sich, bis sich das Mienenspiel zu einer traurigen Resignation hin ordnet. „Wollt ihr also wissen, was ich in Wirklichkeit glaube“, fragt er ein wenig heiser, „ich glaube nichts davon! Es is sowieso alles zu spät. Das ist meine ehrliche Überzeugung.“
Nach diesem atemberaubenden Bekenntnis überkommt alle eine unwiderstehliche Müdigkeit, Margot hat uns oben im Zimmer des Sohnes die Betten gerichtet und sagt: „Macht das Fenster lieber nich auf, nachts is die Luft immer am schlechtesten“, und Horst verspricht uns für den nächsten Vormittag eine Führung durch die LPG.
30.November
Horst kommt wie versprochen und holt uns mit dem Auto ab. Wir fahren raus vor die Stadt, er hat seine Fassung längst wieder und erklärt mit beschwörender Stimme: „Also wenn wir gleich da sind, dann tut mir einen Gefallen, es gibt da einen bei mir, das is der Heizer, den redet bitte nich an. Mit dem isses nämlich so, das is ein Hundertprozentiger und der hat jetzt eine Krise, spricht mit keinem Menschen mehr und schippt nur verbissen vor sich hin. Den laßt also in Ruhe, ich weiß nich, was der macht, wenner erfährt, daß ihr von einer Zeitung aus dem Westen seid.“
Wir versprechen es. Schon sind wir da und biegen in den Hof ein. Vorn im Haus ist unten ein Verkaufsladen, oben die Verwaltung und ein Eßraum für das Personal. In den Seitengebäuden werden die Sträuße, Gestecke und Kränze gebunden, hinten im Gelände erstrecken sich große Gewächshäuser und Folientunnel. Wir gehen zuerst in die Gewächshäuser, wo alles bereits abgeerntet ist und nur noch ein paar Nelken stehengeblieben sind. „Ich hab hier 15 Frauen in der Brigade, die ham ganz schön zu tun. Ein paar sind immer mal krank, is ja klar, aber meine Brigadistin ist sehr gut, die achtet auf alles.“
Wir werden hinter den Gewächshäusern an einen Maschendrahtzaun geführt. „Da hab ich selbst für gesorgt, für diesen Zaun“, erklärt Horst stolz, „das Gelumpe gehört doch eingefriedet, is doch ne Produktionsstätte, da kann nich jeder durchmarschieren wie er will. Aber das könnt ihr mir glauben, es war nich leicht, den aufzutreiben, sowas is bei uns hier eine Kunst. Und was ihr hier so seht, das ham wir alles selbst aufgebaut, die Gewächshäuser, die Gebäude und die Heizanlage, da gabs so gut wie nichts früher. Dahinten würd ich gern mal noch sowas hinbaun, so eine Ketchup-Bude, das wird ein Renner!“
An den Folientunneln führt er uns so angelegentlich vorbei, daß Elisabeth am Eingang des letzten die Plastikplane zur Seite zieht, um hineinzusehen. Drinnen stehen lange Reihen verwelkter Astern. „Was ist denn mit denen los“, fragt sie und Horst setzte zu einer grandiosen Erklärung an: „Also Kinder, das is so, die blühn ja nu das dritte Mal! Normalerweise machen die das erste Mal so im April, Mai rum, dann nochmal, dann sindse nur noch halb so groß, und die hier sind sozusagen der Schluß, der nochmal nachgewachsen ist...“
„Herbstastern“, ergänzt Elisabeth süffisant.
„Na gut, die hätten wir noch verkaufen könnhen“, räumt er ein, „normalerweise wird das auch gemacht. Nu hatten wir ein gutes Jahr, drum sind da noch so viele gekommen. Aber es fehlen mir ja auch die Leute. So graben wir sie später unter, das is ein guter Dünger, denn mit den Böden, das is für uns auch so ein Problem, wenn sie erschöpft sind. Da wern sie bröselig und unfruchtbar. Das is nich wie bei euch mit dem Dünger usw., wir kriegen Stroh und Broilerkot, damit hat sichs.“
Uns noch einmal ermahnend, führt er uns dann zum Kessselhaus. Davor liegen drei große Haufen, je einer aus Koks, Brikettbrocken und Kohlenstaub. Das Förderband ist beladen und steht, der Heizer ist nirgends zu sehen. Horst erklärt, daß es aufs richtige Mischungsverhältnis ankomme: „Vom Koks allein fliegen die Kessel auseinander, der Staub alleine brennt wie Zunder weg, und von den Briketts kriegen wir nie soviel, wie wir bräuchten.“
Im Innern des Heizhauses stehen zwei gewaltige Kessel, es raucht, prasselt und faucht, so daß wir kein Wort verstehen von dem, was Horst sagt. Oben auf den Kesseln steht der Heizer mit einer langen Eisenstange und stochert in der Glut herum, die ihm entgegenlodert. Seine Kleidung ist schwarz von Ruß, ebenso seine Arme und sein Gesicht. Er wirft nicht einen einzigen Blick zu uns herunter, arbeitet wie ein Besessener, stellt dann das Förderband an, steht mit gespreizten Beinen darüber und beobachtet, wie alles in den Kessel poltert.
Horst schreit uns zu, daß die Kessel jederzeit auf Öl umgestellt werden können und wirft einen versteckten Blick Richtung Heizer, der es wohl nicht gehört hat. Dann werden wir hinausgeführt. Zuletzt wird uns noch sein Büro gezeigt. Das Honecker-Bild hat ein Silberrähmchen, dürfte so vor 25 Jahren aufgenommen worden sein und steckt in einem weißen Passepartout, auf dem sich - unterm Glas - Saub abgesetzt hat. Wir bewundern das Bild, und er verspricht, uns eins mitzubringen. Im Vorzimmer sitzt die Sekretärin, ein junges Mädchen, an der Rechenmaschine und flucht. Eine lange Papierschleife hängt am Boden, sie reißt sie ab und zeigt, daß nichts darauf zu sehen ist. „Ich geh gleich mal und versuch, eine andre zu kriegen“, beschwichtigt Horst, und zu uns gewandt sagt er seufzend: „Das sind nur Kleingkeiten, mal is dies, mal jenes, und so geht das den ganzen Tag.“ Unten zeigt er uns noch kurz die Arbeitsräume für die Binderei. „Hier machen wir alles zurecht, die ganzen Artikel, Gestecke für den Friedhof, das ist unser Geschäft. Wenn du als Unternehmer was werden willst, dann mußte über Leichen gehn“, sagt er beim Hinausgehen und lacht bitter. „Na, begeistert seht ihr nich gerade aus. Aber das is mein Betrieb, und ich bin stolz darauf, auch wenn die Holländer hier nur lachen würden. Da hab ich meinen eigenen Kopf, andre hier im Bezirk verkaufen ganze Lastwagen an die Holländer, die haben denen sogar Gewächshäuser angeboten, alles, aber hier gibts das nich bei mir“, knurrt er, hält uns die Wagentür auf und fährt uns zurück.
Am Abend sehen wir uns wieder. Horst fährt auf den Hof mit Karacho und kommt mit gerötetem Gesicht in die Stube. „Habt ihr schon gehört“, ruft er uns zu, „den Chef von eurer Deutschen Bank hamse in die Luft gesprengt... da... eure.. na, Anarchisten!“ Wir haben noch nichts gehört. „Ach, na sowas“, sagen die Frauen und sind nicht weiter interessiert. Horst verschwindet ins Bad und kehrt nach einer Weile duftend und in elegantem Bademantel zurück.
Er ist bester Laune und erzählt: „Na, bei euch lebt das Management ja ganz schön gefährlich. Ich war mal drüben zu ner Werksbesichtigung bei Daimler, sogar mit dem Reuter hab ich gesprochen. Der war ganz interessant, ich war ja ein einfacher Mann aus dem Osten, und er is nu ein Sozialist, komischerweise. Auch mit den anderen hohen Herrn hab ich geredet, im neusten Modell rumgefahren und so, aber da muß ich doch sagen, ihr habt drüben ja ein ganz schönes Kastensystem. Wie da gegessen wird und der ganze Luxus, das Geld... wir ham ganz schön geguckt. Aber richtig is das trotzdem nich, das muß ich als Christ sagen...
Man darf ein Menschenleben nich antasten, egal mit welcher Ideologie. Die Leute da bei euch sind für mich Verbrecher. Der Rudi Dutschke, das war ein fähiger Mann! Wenn der ein bißchen Glück gehabt hätte, wenn die Geschichte soweit gewesen wär, dann hättet ihr vielleicht heut ein anderes Land... vielleicht mehr so, wie wir sein sollten... der war klug, ein richtiger Kopf, obwohl er ja mein politischer Gegner wäre, aber dem hätt ich vertraut, das is meine Überzeugung! Nu schaut ihr, was? Ich bin ganz gut informiert über euch.
Eure Gründe, die könnt ihr vergessen. Ich war mal in Schönberg vor ner Zeit, stehe da, alles pickobello hochgeschoben, junge Kiefern uffgeforstet, Betonstraße, alles sauber. Und da bringense den ganzen Tag das Schweinezeugs von euch an und schiebens ein. 600 Meter weg is das Dorf, jedes Haus hat davor nen Brunnen. Nu, denk ich mir, frag ich doch mal, sagen die: was soll sein? Das saufen wir, was die uns da reinkippen. So, und das machen wir mit unserer eigenen Bevölkerung, der vergiften wir die Brunnen. Wer is nu Schuld? Beide Staaten sind doch Verbrecher! Und das geht ja schon Jahre! Die drüben habens gewußt und die Klappe gehalten, weilse froh waren, daß die Probleme erst mal aus dem eigenen Land weg waren.“
„Haste dich schon um den Hund gekümmert, Horst, der muß noch raus und Fressen haben“, fragt Margot streng und wir bieten an, ihn rauszulassen, da kann er mit unseren zusammen spielen.
Die Hunde toben im Hof hin und her, wir schauen vom Fenster aus zu und Horst berichtet, wie er zu dem Welpen gekommen ist: „Hier bei uns sind ja die Russen, ich bin da mit einem gut befreundet seit langem, der is ein hoher Offizier, daher weiß ich Bescheid. Nu isses so, die ham ja massenhaft Wachhunde gehabt immer für die militärischen Objekte, aber das waren Zustände, das kann sich kein Mensch vorstellen. Da ham se gezüchtet die ganzen Jahre, so ne Mischung aus Schäferhund und Wolf und dann, irgendwie durch Inzucht oder so, warn die immer krank, dann hamse diese Schlittenhunde genommen zum Auffrischen, war aber wieder irgendwie auch nich richtig. Die gehen nu immerzu an Laufleinen hin und her im Graben. Wenn das regnet, rennense im Schlamm, da werfen sie auch drinne. Ich hab Welpen gesehen, bis zum Kopf im Dreck! Der Gorbatschow hat das jetzt abgeschafft mit den Hunden. Nu ham se versucht, die loszuwerden, ich hab mir den Welpen genommen, der hat auch dauernd was an den Pfoten, entzündete Augen, aber es wird schon werden. Die müssense ja alle umbringen, die großen, einen Kettenhund kannste nich mehr umgewöhnen.
Und nu will ich euch nochwas sagen, von wegen eurer Überheblichkeit über die arme DDR, der man 100 Mark zusteckt und Kredite gnädig gewähren will. Wir ham hier von 1953 bis heute 727 Milliarden Reparationsausgleich gezahlt an die Russen, für das, was wir Deutsche denen angetan haben im Kriege. Und ich hab die genauen Zahlen von diesem Freund, bei uns hat jeder Bürger bis heut 16.000 dafür erbracht und bei euch gerade mal 120 Mark. Na, wie findet ihr das? Denkt mal drüber nach, was euer Staat unserem da schuldig geblieben ist, das könnt ihr auch mal schreiben sowas, euch ham sie ja alles erlassen, die Amerikaner, Engländer und Franzosen, damit ihr ein schöner fetter Kapitalismus werden könnt, ein Bollwerk gegen die Armen drüben.
Und nochwas sollt ihr wissen, weils ja immer ganz falsch dargestellt wird. Daß es in Leipzig nich zu Blutvergießen gekommen is am 9.Oktober, das verdanken wir nich irgendwelchen sechs Leuten und schon gar nich dem Krenz, das is den Russen zu verdanken, dem Gorbatschow! Die ham bereit gestanden zum Eingreifen gegen unsere bewaffneten Organe, so war der Befehl, und das war in Berlin bekannt, deshalb ham sie sich zurückgehalten unsre Leute, aus diesem einzigen Grund. Und hör mir auf mit diesem Dirigenten, ne, die ham doch alle mitgemacht, solange es gut lief. Wie kommt der denn zu seinem Posten, habt ihr euch das mal gefragt. Den hat er seit '68, nu? Da war dieser Tscheche, der das Maul nich halten konnte beim Einmarsch der Russen in Prag und weg mußte deshalb. Und was hat Masur gemacht? Hat sich auf den schönen Posten gesetzt und das Maul gehalten zu Prag! Heute, wos nichts kostet, reißt er es auf und macht sich zum Freiheitskämpfer erster Ordnung. Ne, hört mir uff mit denen da oben, heute so, morgen so.
Obwohl ich keinen Bildungsgrad hab, ich komm sozusagen von ganz unten, war im Waisenhaus und in Heimen, nehm ichs mit jedem auf, der einen Doktortitel hat. In praktischen Fragen und vielleicht auch ein bißchen in theoretischen. Ich will nich unbescheiden sein, aber ich hab mehr lernen müssen als die. Mit 16 Jahren bin ich hier angekommen in Köthen, das war 1945, und ich hatte nichts. Keine richtige Schule, ne Hose, Hemd, Holzschuhe und ne Jacke. Bettwäsche mußt ich mir vom Bauern borgen, das war vielleicht blamabel, aber es war so. Ich hab die Landwirtschaft gelernt, war Roßknecht und hab immer aufgepaßt, daß ich von den Leuten was lerne. Hab Bücher gelesen und zugehört.
Hier von meiner Schwiegermutter hab ich eine Menge gelernt, sie hat mich gefördert, das ist eine bewunderungswürdige Frau, ich verehre sie. Und was heut aus mir geworden ist, das verdanke ich nich irgendwelchen Privilegien, sondern gutwilligen Leuten und mir selbst. So, und nu könnt ihr mich vielleicht auch besser verstehn, daß ich nich nur an mich denke, sondern auch daran, daß es allen besser gehn soll. Und was ich euch gestern gesagt hab, meine politische Meiung, daß ich für eine autonome DDR bin, das hat auch damit zu tun. Ich will nich, daß wir hier alle vergessen, wo wir herkommen und was gewesen is, so wie ihr. Aber wahrscheinlich wirds zur Vereinigung kommen, ob ich das will oder nich. Alle wollen jetzt in kürzester Zeit vierzig Jahre nachholen, und unsre Leute stehn so unter Druck und sind so durcheinander... Wahrscheinlich wern sie wieder das Falsche korrigieren.“ Er trinkt einen Schluck Bier, seufzt und steht auf: „So, und jetzt zieh ich mich an und geh euch das Bild holen, heute mittag gings nich so recht“, sagt er und ist trotz unseres Einspruchs nicht zu halten, erklärt, daß es morgen noch schlechter sei.
Nach einer Viertelstunde ist er wieder da mit dem Honecker -Bild, stellt es auf den Tisch und sagt: „Na, Junge, du hast es falsch gemacht, du Verbrecher!... Aber man soll nich vergessen, was du in deiner Jugend geleistet hast gegen die verdammten Braunen, dafür biste ins Zuchthaus gegangen...“ Margot kommt mit einem Lappen, Papier und Kordel, staubt das Bild ab und verpackt es sorgfältig.
„Und falls sie euch an der Grenze fragen, wo ihr das herhabt“, überlegt Horst, „was sagt ihr dann?“ Wir schlagen vor, in diesem Fall zu erklären, daß wirs auf dem Müll gefunden hätten. „Das geht, das glaubt jeder“, unterstreicht Horst und ist es zufrieden.
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