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Bingo mit Sex-Appeal

Wenn eine Kieztranse aus der Oranienstraße und ein Bremer Tourist auf Haselnußcreme hoffen, ist Kreuzberg at its best. Ein Besuch in der „Alles Bingo Bar“ im SO 36    ■ Von Kirsten Küppers

Während sich weite Teile der Stadt mit Promi-Friseuren, Tropenholztheken und Sushi-Kantinen in großer Aufgeregtheit um internationalen Chic bemühen, holt man sich in Kreuzberg Piefigkeit aus dem Ausland an Bord.

Bingo, das ist die Lotterie, mit der sich in der englischen Provinz Hausfrauen und Frührentner ihre tristen Sonntagnachmittage in der örtlichen Mehrzweckhalle totschlagen. Inzwischen ist das Spiel mit dem Sex-Appeal einer Topfpflanze ins SO 36 geschwappt. Aber zum Glück ist in Kreuzberg immer noch mehr los als auf englischen Dörfern, und so ist die seit Dezember einmal im Monat zelebrierte „Alles Bingo Bar“ kreischig, bunt und doch wieder sexy.

Bingoscheine gibt's hier ab drei Mark an der Theke. Wer noch keinen Sitzplatz auf den Bierbänken ergattert hat, bis die drei Cheerleader auf die Glitterbühne toben, bekommt auch keinen mehr. Der Saal ist gerappelt voll. Die „Wild Flamingo Bingo Band“ tuscht und orgelt. Endlich finden sich unter showmasterholländischem Zischeln auch die beiden Transen Kitty Karell und Mary Weinfurth neben der Betonmischmaschine ein. Lottofee Kitty fischt so lange silberne Zahlenkugeln aus der Trommel, bis irgend jemand „Bingo“ schreiend nach vorn rennt. Der hatte dann die richtige Kombination auf seinem Zettel. Dafür erntet er stürmischen Applaus, einen absurden Preis und – wichtig! – einen mit viel Hüftgewackel gefeierten „Suuuper Seeexy Bingooo!“-Chorus von Mary und der Menge.

Trotz Tuntenglamour und Großstadt ist die „Alles Bingo Bar“ im SO 36 ein Kiezding. Alle Preise – von der Türkpop-CD über die Sonnenmilch bis zum Buchtitel „Was ist eigentlich Anarchie?“ – sind von Läden aus der Umgebung gestiftet. Zum Bingo-Spektakel in der Oranienstraße kommen Spielernaturen, Stammgäste, Schwule, Lesben, Heteros, Rentner, Kinder und Neugierige. Das Gemisch macht den Abend perfekt. „Superulkig, die Leute, die man vom Nightlife kennt, brav und gespannt über ihre Bingoscheine gebückt zu sehen“, findet ein 28jähriger Nachtschwärmer. Andere freut einfach das Comeback der kuscheligen Nachbarschaft. „Ich kann endlich mal wieder im Kiez ausgehen. Wenn ich hier an einem Tisch mit einer jungen Türkin Bingo spiele, ist es das Aufleben von dem, was den Kiez hier ausmacht“, erzählt eine stämmige Secondhandladen-Betreiberin. Für die Tombola hat sie ein Samtoberteil gespendet. Der Erlös eines Abends, im Schnitt um die 2.000 Mark, kommt einem guten Zweck zugute, an diesem Dienstag geht er an das Café Positiv, ein Selbsthilfeprojekt der Berliner Aids-Hilfe. Lilo, Organisatorin des Kreuzberger Bingo, sieht vor allem den pragmatischen Nutzen für die Szene. Die Lotterie sei mit viel weniger Aufwand verbunden als die üblichen Soli-Partys und obendrein spaßiger.

Und auch wenn der schnauzbärtige Tourist aus Bremen anfangs noch nicht so recht weiß, was er davon halten soll, möchte man es ihm zubrüllen. Dies ist sonnenklar Kreuzberg at its best – no Klischee: Die Transen tragen glitzernde Ohrclips und singen Lieder von Dunja Rajter, aber nicht ohne den „Zigeuner“ im Text vorher politisch korrekt abzusichern. Eine Frau gewinnt ein Zungenpiercing, ein Krawattenmensch einen Lesbencomic und ein Glas Biohaselnußcreme. Man prostet sich mit Beck's-Bier-Flaschen zu. Die Typen vom Café Positiv wirken irgendwie verschnarcht, wahrscheinlich, weil sie in jedem Satz ein „Ey, Leute“ einbauen. Eine Armeehosenfrau agitiert für eine Veranstaltung zur Besetzung der Grünen-Landesgeschäftsstelle im EX im Mehringhof.

Ich fühl' mich hier wie ein Außerirdischer“, sagt Christian, der aus Mitte angereist ist. Kann sein, aber immer noch besser, als an Tropenholztheken zu ermüden. „Alles Bingo Bar!“ das nächste Mal am 11. Mai im SO 36, 19 Uhr, Eintritt 8 DM

Die Wild Flamingos tuschen, und der ganze Saal wackelt mit den Hüften und schreit „Suuuper Seexy Bingooo!“

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