Bill Clinton ist zwar noch ein Jahr im Amt. Aber in wenigen Tagen werden in den USAdie Kandidaten für seine Nachfolge gewählt. Zeit für eine erste Bilanz der Ära Clinton: Der glücklichste Präsident Amerikas
„Vorhersagen sind unmöglich, besonders über die Zukunft.“ Diese bemerkenswerte Beobachtung verdanken wir einem der großen amerikanischen Weisen, der Baseball-Legende Yogi Berra. Das gilt natürlich für die Welt des Sports nicht weniger als für die der Politik. Denn: Noch blödsinniger als die unzähligen Jahrtausendrückblicke, die praktisch jedes Medium in Westeuropa und den Vereinigten Staaten zieren, sind nur die sie begleitenden Voraussagen. Schließlich gründen sich die meisten allein auf vorhandene Strukturen und schließen den Zufall als Komponente aus. Auch wenn Strukturen entscheidend sind, so liefern sie doch nur das Gerippe der Geschichte. Ihr Fleisch und Blut sind die Zufälle. Und die lassen sich immer noch nicht vorhersagen, so raffiniert auch all die Soft- und Hardware sein mag, die der Menschheit inzwischen zur Verfügung steht.
Folglich finde ich es nicht nur unmöglich, die Zukunft der amerikanischen Politik vorauszusagen – insbesondere das Ergebnis der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen –, ich empfinde es auch als ebenso schwierig, Bill Clintons Vermächtnis einzuschätzen, wenn es denn tatsächlich eines geben sollte über die triviale Tatsache hinaus, dass er seit Franklin D. Roosevelt als erster demokratischer Präsident zwei Amtszeiten lang regierte. Aber da der Wahlkampf sich an Clintons Präsidentschaft anschließt, hängen die beiden Themen eng zusammen.
Zweifellos wird Clinton als einer der glücklichsten Präsidenten Amerikas in die Geschichte eingehen. Schließlich hat er den beschämenden Akt der Amtsenthebung nur aus einem einzigen Grund überstanden: wegen der bahnbrechenden Erfolge der amerikanischen Wirtschaft, auch wenn die – wie die meisten Amerikaner wissen – nur wenig mit dem Präsidenten zu tun haben. Wie ernsthafte Forschungen eindeutig nachgewiesen haben, wurde Clinton nicht durch den fanatischen Übereifer des unabhängigen Anklägers Ken Starr, nicht durch die Unfähigkeit der republikanischen Strategen im Repräsentantenhaus und auch nicht durch irgendwelche verfassungsmäßigen Hindernisse vor der vollständigen Schande gerettet, als einziger Präsident der amerikanischen Geschichte durch einen abgeschlossenen Prozess zur Amtsenthebung aus dem Amt gejagt zu werden (Richard Nixon trat zurück, bevor dieser Prozess in Gang gesetzt wurde, und Andrew Jackson überlebte ihn mit einer einzigen Stimme), sondern einzig und allein durch die Unterstützung des amerikanischen Volkes.
Wenn es in der jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte der amerikanischen Wirtschaft tatsächlich so etwas wie wirkliche Hauptdarsteller gäbe, dann stünden bei jedermann Alan Greenspan, der Präsident der Federal Reserve Bank, sowie die kaum zwanzigjährigen Hightech-Gurus auf der Liste. Sie haben die amerikanische Ökonomie in kaum einem Jahrzehnt revolutioniert. Sicher: Auch der Präsident als Kopf der Bundesregierung übt mittels Fiskalpolitik gewissen Einfluss auf den Wirtschaftsprozess aus – und Bill Clinton hat sicherlich dazu beigetragen, ehemals gewaltige Etatdefizite in riesige Überschüsse zu verwandeln. Aber: Als Staatsoberhaupt überlebte Clinton die Schande des Lewinsky-Skandals nur, weil das amerikanische Volk sich des alten Sprichwortes erinnerte: „Repariere nichts, was nicht kaputt ist.“ Dass die Amerikaner nicht in der Stimmung zum Reparieren waren, sicherte Clintons Überleben.
Bevor wir die grundlegenden Mängel seiner Präsidentschaft aufzählen, ist es nur fair, ihm das Lob zu spenden, das er meines Erachtens verdient: Vor allem gelang es Clinton, den Republikanern die Zähne auszubrechen bei ihren so genannten Keil-Themen in der Kultur- und Sozialpolitik – bei „Recht und Ordnung“, „Familie“, „Patriotismus“ oder „Flaggen verbrennen“. Mit diesen Themen konnten die Republikaner die Demokraten seit den späten 60er-Jahren treffen und ihnen Wähler abjagen: die so genannten Reagan-Demokraten, d. h. Menschen, deren soziale und kulturelle Orientierungen konservativ waren und ihre progressiven ökonomischen Wertvorstellungen überlagerten. Zum Teil durch Clintons häufige Flirts mit den Republikanern, zum Teil jedoch auch mit seiner eigenen Politik gelang es ihm, viele Reagan-Demokraten in ihre ursprüngliche Heimatpartei zurückzuholen und die Republikaner bei diesen entscheidenden und sehr umstrittenen Themen zu schwächen. Clinton ist es zuzuschreiben, dass der ehemals sehr mächtige christlich-konservative Flügel der Republikanischen Partei viel von dem Glanz verloren hat, den er Anfang der 90er-Jahre besaß.
In diesem Zusammenhang muss ich auch erwähnen, dass Clinton der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung wenigstens annähernd wieder zu dem Ansehen verholfen hat, das sie vor Reagan genoss – wenn auch nicht zu ihrer damaligen Macht. Die organisierte Arbeiterschaft bleibt schwach, ist aber immerhin nicht mehr den ständigen Demütigungen ausgesetzt wie in den zwölf Jahren republikanischer Präsidentschaften.
Zudem war Clinton – und hier gebührt ihm meiner Ansicht nach das größte Lob – der erste Präsident in moderner Zeit, der sich persönlich und politisch eindeutig positiv gegenüber Schwarzen verhalten hat. Jimmy Carter sympathisierte mit Afroamerikanern, aber Clinton mochte sie und ihre Kultur offensichtlich. So war es kein Zufall, dass die schwarzen Amerikaner ihm immer mehr Unterstützung als jede andere Gruppe in der amerikanischen Politik entgegenbrachten, mehr sogar als die Juden. Das galt besonders während des Prozesses zur Amtsenthebung. Bei der vielleicht nachhaltigsten Entscheidung, die einem amerikanischen Präsidenten zur Verfügung steht – der Besetzung von Richterposten in der gesamten Bundesgerichtsbarkeit –, brachte Clinton fast zweimal mehr schwarze Richter in die Bundesgerichte als Jimmy Carter. Und berücksichtigt man die Zahl der Frauen, die Clinton als Richterinnen ernannte, muss man Clinton auch hier großes Lob zollen.
Auf dem Gebiet der Außenpolitik sind Erfolge oder Fehlschläge immer schwieriger festzumachen als in der Innenpolitik, weil hier Zufälle weitaus häufiger auftreten. Ich würde Clintons Erbe – zumindest was seine Absichten angeht – in den folgenden entscheidenden Gebieten als positiv einschätzen: Nordirland und der Nahe Osten (potenziell zwei ungeheure Erfolgsgeschichten); Ost-Timor (wo es ihm gelang, die Australier das tun zu lassen, was Amerikaner und Europäer nicht tun wollten). Beachtlich sind auch die finanzielle Entlastung Mexikos, die Schaffung der Nafta und – ja, durchaus – sogar das Kosovo.
Die innenpolitischen Fehlschläge sind allerdings Legion – und sie sind bedeutend: seine Unfähigkeit, irgendeine Art der Waffenkontrolle durchzusetzen oder einen Rechtskatalog für Patienten oder eine Gesundheitsreform. Genauso wenig gelangen ihm dringend benötigte Gesetze, um wenigstens einige der schlimmsten Begleiterscheinungen der Armut zu lindern, mit der in dieser Zeit des Booms und des Überschusses nach wie vor Millionen Amerikaner geschlagen sind. Tatsächlich zeigen die neuesten Daten, dass die Zahl der Armen in den acht Jahren der beiden Clinton-Amtszeiten zwar stark zurückgegangen ist, dass sich jedoch die Menschen, die auch jetzt noch arm sind, in einer noch elenderen Lage befinden als zuvor. Sicherlich wurden all diese Gesetzesvorhaben durch einen widerspenstigen Kongress torpediert, dessen beide Kammern während sechs der acht Clinton-Jahre von Republikanern beherrscht waren. Aber Clinton und seine Regierung tragen zumindest die halbe Schuld. Und hier kommen wir zu Clintons vermutlich größtem Fehler: seiner vollständigen Desorganisation und Unfähigkeit, in politischen Fragen dieselbe Ausdauer aufzubringen wie in allen Fragen persönlicher Selbstdarstellung und Macht. Darin legte er eine Zielstrebigkeit und einen eisernen Willen an den Tag, seit Präsident Kennedy ihm einst die Hand geschüttelt hatte. Dies soll ihn ja dazu geführt haben, ein Leben lang die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten anzustreben – und schließlich zu erlangen.
In der Frage der außenpolitischen Fehlschläge sind es nicht so sehr einzelne Themen, in denen man leicht ernsthafte Mängel nachweisen könnte. Es ist vielmehr das vollständige Missverständnis gegenüber bestimmten zentralen Protagonisten der Weltpolitik wie den Franzosen. Sie betrachtet die Clinton-Regierung als Verbündete, obwohl sie inzwischen längst zu wichtigen Gegnern geworden sind. In diesem Fall ist die politische Struktur wichtiger als das Amt. Das heißt: Die Vereinigten Staaten, wer immer im Weißen Hause sitzen wird, dürften zunehmend von den politischen Klassen in aller Welt aus einem einfachen Grunde bekämpft und gehasst werden: Da diese mit wachsenden Problemen der Veränderung zu kämpfen haben, brauchen sie einen passenden – und offensichtlichen – Sündenbock. Und wer könnte diese Funktion besser erfüllen als die Vereinigten Staaten, jene Verkörperung der Modernisierung, die man gelegentlich brauchen mag, aber niemals als kulturell gleichberechtigt akzeptiert? Dies ist ein großes Problem, mit dem sich bislang weder Clinton noch einer der künftigen Präsidentschaftskandidaten auseinander gesetzt hat – mit der traurigen Ausnahme des rechten, antisemitischen Patrick Buchanan, der eine einfache Lösung bereithält: Vollständige Isolation.
Die beiden Kandidaten für die Nominierung der Demokratischen Partei – Al Gore und Bill Bradley – sind gebildete, geschickte, kenntnisreiche Männer, denen jedoch eine wichtige Gabe fehlt, die Clinton in seiner medienorientierten Politik als unverzichtbar bewiesen hat: zugeschriebenes Charisma. Keiner der Kandidaten ist ein guter Redner, aber das war auch Clinton nicht. Im Unterschied zu ihm jedoch, der das Charisma von Ausgelassenheit und Jungenhaftigkeit genoss, sind Gore und Bradley einfach zu geradeheraus, zu gut, zu aufrecht – kurz: zu langweilig. Ja, wer liebt schon Musterschüler? Auf der republikanischen Seite wird mit jeder Debatte deutlicher, dass George W. Bush nicht so sehr ein politisch unakzeptabler Konservativer ist, sondern schlicht dumm. In bemerkenswertem Gegensatz zu Ronald Reagan, der alles andere als dumm war, aber auf brillante Weise sein Image als einfach gestrickter Mensch nutzte, um sich die dauerhafte Verachtung der amerikanischen Intellektuellen zu verdienen, was die ohnehin gewaltige Zuneigung des amerikanischen Volkes zu ihm nur noch verstärkte, fehlt W. (wie Bush abschätzig genannt wird) alles zu Reagans Charme und politischem Geschick. Das bedeutet natürlich nicht, dass er nicht gewinnen könnte. Wie gesagt: Vorhersagen sind unmöglich – besonders über die Zukunft.
Andrei S. Markovits
Übersetzung: Meino Büning
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen