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Bildungsroman Auf Tramptour durch das Schreiben und die Selbsterkenntnis: Der fünfte Band, „Träumen“, in Karl Ove Knausgårds autobiografischem ProjektIm tiefsten Innern vollkommen einsam

„Ich gehörte nicht hierher, das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers“: Knausgård Foto: André Løyning

von Detlef Kuhlbrodt

Ein paar Jahre hatte ich Karl Ove Knausgård nur von Weitem gesehen. Ich hatte verschiedene Texte über den norwegischen Autor gelesen, über sein groß angelegtes autobiografisches Werk „Min Kamp“, das überall gefeiert wurde. Sechs Bände, ungefähr 4.000 Seiten.

Ich war mir sicher, dass es mir gefallen würde, ich war schon immer ein Fan des autobiografischen Erzählens. Marcel ­Proust ist mein Lieblingsschriftsteller, mit Hermann Hesse, Jack Kerouac und William S. Burroughs war ich aufgewachsen. Peter Handke, Herbert Achternbusch, Joachim Meyerhoffs autobiografisches Werk „Alle Toten fliegen hoch“ bewundere ich sehr. Und Rainald Goetz natürlich auch.

Vor einem Jahr dann las ich mein erstes Knausgård-Buch. Der Schriftsteller Andreas Merkel hatte es mir zum Geburtstag geschenkt. Merkel ist Torwart bei der Fußballnationalmannschaft der Autoren und ein großer Knausgård-Fan. Er hatte ihn sogar einmal fast in echt gesehen, wie er in der Internetzeitung Interview schreibt: „Zum ersten Mal gehört habe ich von Karl Ove Knausgård auf dem Literaturfestival in Lillehammer, wo wir gegen norwegische Autoren Fußball spielten: ein wortkarges, brutales Team, dessen berühmtester Autor leider nicht mitspielte, weil er als menschlich zu schwierig galt.“

Ich las das Buch. „Spielen“, in dem Knausgård von seiner Kindheit erzählt. Es ist ein sehr schönes, lebendiges Buch und ein guter Knausgård-Einstieg. Nach „Spielen“ las ich „Lieben“, das ich am besten in Erinnerung habe. Es handelt vom Leben der Kleinfamilie und ist auch ein großartiges Stockholmbuch. Vielleicht hatte es mir fast noch besser als „Spielen“ gefallen, weil es mein zweites Knausgård-Buch und mir altersmäßig näher war und weil es so viele komische Passagen und Charaktere in „Lieben“ gibt. Zum Beispiel eine russische Nachbarin, die alles tut, um den Helden, Karl Ove Knausgård, fertigzumachen.

Man kann „Min Kamp“ natürlich auch in der vom Autor vorgesehenen Reihenfolge lesen, also „Sterben“, „Lieben“, Spielen“, „Leben“, „Träumen“. (Wie der abschließende sechste Band auf Deutsch heißen wird, ist, glaube ich, noch nicht klar.) Ähnlich wie bei Meyerhoff, anders als bei Proust (den man natürlich auch durcheinanderlesen kann) ist es nicht so wichtig, womit man anfängt. So mein Eindruck.

Keineswegs egozentrisch

Knausgårds autobiografisches Werk ist, wie alle großen autobiografischen Erzählungen, alles andere als egozentrisch; es zeichnet ein stimmiges Gesellschafts-, Stadt- und Landschaftsbild von Norwegen, Skandinavien, Westeuropa im ausgehenden 20. Jahrhundert.

Ob es einem gefällt, ist vielleicht eine Frage des Temperaments, der Gestimmtheit des Lesers; manchmal braucht man 200 Seiten, um in den Sog der einzelnen Romane zu kommen. Die 200 Seiten, durch die man sich kämpfen musste, sind die Voraussetzung, um die Schönheit des Werkes genießen zu können. Und die Schönheit des Werkes besteht auch in dem kommunikativen Raum, den es schafft, den Gesprächen, die man mit Freunden und Freundinnen führt, die auch gerade Knausgård lesen. Und als jüngerer Generationsgenosse erinnert einen Knausgård auch wieder an die Platten und Lebensstile, die man selbst aus der eigenen Jugend kennt; daran zum Beispiel (in „Träumen“), wie allgemein man Metaphern und Symbole in der Literatur gehasst hatte. Oft hatte ich mich allerdings auch gefragt, wieso er nie die schwedische Band Leather Nun erwähnt.

„Träumen“ knüpft direkt an „Leben“ an. Beides sind Bildungsromane. „Leben“, das 1986 spielt (aber das Jahr in Rückblenden oft verlässt), erzählt von dem Jahr, das der 18-jährige Abiturient als Aushilfslehrer einer Dorfschule in Håfjord in Nordnorwegen verbringt; der Held ist verzweifelt, weil er einerseits ständig spitz ist, aber leider andererseits immer Angst hat, beim Sex sofort zu kommen. Am Ende von „Leben“ hat er zum ersten Mal gelingenden Sex sozusagen, in einem Zelt in Roskilde.

„Träumen“ beginnt mit einer Rückreise. Der Held hat eine Tramptour durch Europa gemacht, war auf einer griechischen Insel, wo er – wie Leonard Cohen in den sechziger Jahren – versuchte, in der Einsamkeit zu schreiben. Er hat die Aufnahmeprüfung für ein Seminar für angehende Schriftsteller in der Universität Bergen bestanden. Er zweifelt ständig an seinem Talent.

In der Ich-Literatur ist es eher von Nachteil, wenn man im Einklang mit sich ist

Er zieht in die regenreiche Stadt, in der schon sein großer Bruder, sein bester Freund, wohnt. Er hängt sein John-Lennon-Poster ab. Er schreibt in Zeitungen über Bands und Bücher. Murakami findet er doof, weil er zu wenig japanisch sei, den „Herrn der Ringe“ liebt er. Mit seinem Bruder spielt er in Bands, die Kafkafilter beziehungsweise Di Derrida-da heißen, und schreibt Liedertexte.

In Bergen regnet es eigentlich ständig und man denkt an Derridas berühmten Nietzsche-Aufsatz „Ich habe meinen Regenschirm vergessen“. Es gibt mehrere Liebesgeschichten.

Er arbeitet so zivildienstmäßig in einer psychiatrischen Einrichtung. Er trinkt zu viel, hat Blackouts und teils gewalttätige Ausfälle. Er betrügt seine Freundinnen und zermartert sich mit schlechtem Gewissen. In einer Szene zerschneidet er sich betrunken aus Eifersucht, wie schon in „Lieben“, das Gesicht. Man denkt an Rainald Goetz und erinnert sich daran, wie verbreitet Selbstverletzungen bei jungen Männern und Frauen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren, und auch daran, wie verbreitet es war, auf Tramptouren Tagebuch zu schreiben.

In einem Interview mit der SZ sagt Knausgård, ihm sei es beim Schreiben vor allem darum gegangen, gemocht zu werden. Und dass seine Grunderfahrung die der Peinlichkeit sei; immer habe er Angst davor gehabt, ausgelacht zu werden. In „Träumen“ heißt es ziemlich am Anfang: „Ich gehörte nicht hierher, das spürte ich mit jeder Faser meines Körpers. Es half nichts zu wissen, dass der Wald eigentlich ein Wald der achtziger Jahre war und die Berge eigentlich Berge der achtziger Jahre waren.“

Innere Notwendigkeit

Irgendwann später heißt es von seiner Generation, dass sie sich von den vorhergehenden Generationen dadurch unterscheidet, dass sie nicht ein Leben lang an einem Ort wohnt.

In der Ich-Literatur ist es eher von Nachteil, wenn man im Einklang mit sich ist. Für den, der im Einklang mit sich ist, besteht keine innere Notwendigkeit zum Schreiben.

Zunächst geht es um das Tagebuchschreiben. Um allein herauszufinden, wo seine Grenzen sind, führt der Held auf seiner Tramptour ein Reisetagebuch. Nach der Reise besucht er seine Mutter, lässt das Tagebuch offen herumliegen; die Mutter liest es. Der junge Held ist empört.

Selbsterkenntnis durch das Schreiben von Tagebüchern könne man nur finden, wenn sie niemand anders liest; Mitleser verhindern den Erkenntnisprozess des Schreibenden, der daran leidet, dass er meint, nicht schreiben zu können. „Ich wollte schreiben, aber das konnte ich nicht, denn im tiefsten Innern meiner Seele war ich vollkommen einsam und allein.“

Seitenlang geht es darum, wie man das erringen könnte, von dem man meint, dass es ein Schriftsteller haben müsste. Wie so viele hatte er Kerouac und Bukowski gelesen. Auf die Frage, wie er seine Texte beschreiben würde, antwortet er, „irgendwo zwischen Hamsun und Bukowski“.

Er fühlt sich aber viel zu schüchtern, allein in Kneipen mit interessanten Fremden zu sprechen. „Ich war nicht wild genug …im tiefsten Innern war ich bieder.“ – „Da liegt es meiner Natur doch näher, in meiner Wohnung allein Waffeln zu backen.“ Das erinnert an Becks berühmte Hymne „Loser“.

In gewisser Weise ist Karl Ove Knausgårds „Min Kamp“ the return of Dogma. Bei aller Privatheit die sich beim Lesen einstellen mag, ist Knausgård vor allem ein Held der Weltliteratur. Viele Fotos des Autors dagegen erinnern an Bob den Bösen aus „Twin Peaks“.

Karl Ove Knausgård: „Träumen“. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2015, 800 S., 24,99 Euro

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