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Bilder aus dem vernichteten Leben

Eine würdige neue Dauerausstellung hat die Israelitische Töchterschule im Hamburger Karolinenviertel bekommen: Sie gibt einen Einblick in Leben und Betrieb dieser Bildungseinrichtung. Als sie 1942 aufgelöst wurde, war sie die letzte jüdische Schule der Stadt

Eine Stolperschwelle hat Gunter Demnig 2021 in der Schanzenstraße verlegt: Sie erinnert an die Deportation der jüdischen Schülerinnen und Schüler am 15. und 19. Juli 1942 Foto: Hinnerk11/WikimediaCC

Von Amira Klute

Als Kim Estes-Fradis zum ersten Mal die Israelitische Töchterschule in Hamburg besuchte, war der Name über der Tür zwar noch da. Aber lesen konnte sie ihn kaum, so verdreckt waren die Buchstaben an der gelb-blauen Fassade des 1883 errichteten Hauses im Karolinenviertel.

Damals, 1972, beherbergte es eine Sprachheilschule. Nichts außer jenem Schriftzug erinnerte an seine Vergangenheit. Estes-Fradis war Anfang 20 und mit ihrer Mutter, der ehemaligen Schülerin der Töchterschule Erika Estis, aus den USA nach Hamburg gekommen.

Erika Estis lebte damals seit 26 Jahren in New York. Aber geboren worden war sie 1922 als Erika Freundlich in Hamburg. Da ist sie aufgewachsen und zur Schule gegangen, bis sie 1938 mit einem Kindertransport nach England floh. Als Zeitzeugin hat sie seit den 1990ern ihre Geschichte immer wieder erzählt. Sie hatte großen Anteil an der wissenschaftlichen Untersuchung der Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Hamburg. Oft trat sie vor Jugendlichen auf, nicht nur in Hamburg, um ihnen ihr Leben zu schildern, ihre Flucht, ihre Erfahrung. Anfang 2023 ist sie im Alter von 100 Jahren in New York gestorben. Sie hinterließ drei Kinder, sieben Enkel und acht Urenkel.

„She wanted to show me her life“, sagt ihre Tochter Estes-Fradis, ihre Mutter habe ihr das Leben, das sie in Hamburg führte, zeigen wollen, die Schule, die sie besucht hat – ihr Leben, ihre Schule. Kim Estes-Fradis ist seit ihrem ersten Besuch oft wiedergekommen, wie jetzt, im Juli 2025, zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung in der Gedenk- und Bildungsstätte. Die gibt es seit 1989.

Während der NS-Zeit war dieses Haus die letzte Schule in Hamburg, die jüdische Kinder besuchen durften. 1942 musste sie, wie alle jüdischen Schulen im Deutschen Reich, schließen. Mehr als 300 Schü­le­r*in­nen und Leh­re­r*in­nen wurden deportiert und ermordet.

Die neue Dauerausstellung soll auch die Geschichte der Schule vor dem Nationalsozialismus und vor der Shoah erzählen. Über zwei Jahre lang hat ein Team um Historikerin und Kuratorin Anna de Villiez und Judaistin Sabine Kößling die Ausstellung neu konzipiert, mit 400.000 Euro von der Stadt. Auf 200 Quadratmetern erzählt sie die Geschichte der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, als eine von drei miteinander verflochtenen Strängen.

Historikerin von Villiez steht vorne am Pult, unter der Tafel vor Reihen von Holzbänken mit Bunsenbrennern, Messgeräten und einer Luftabzugshaube. Der bis heute erhaltene Chemieraum sei ein für das Jahr 1930 hochmodern eingerichtetes Klassenzimmer. „Ich stehe hier jetzt ein bisschen wie eine Oberlehrerin“, sagt sie und zeigt auf einen Stundenplan von 1891, der im ehemaligen Chemieraum an der Wand hängt. Montag, fünfte Klasse: Deutsch, Hebräisch, Handarbeit, Deutsch, Rechnen. Eine Schulwoche ging von Sonntag bis Freitag.

Die Geschichte der Schule erschließt sich wie in diesem Raum an vielen Stellen durch die Augen ehemaliger Schüler*innen. Die Ausstellung erzählt Schulalltag während der zunehmenden antisemitischen Verfolgung im Nationalsozialismus – und davor. Das tut sie anhand von Aufsätzen, Briefen, Zeugnissen, Stundenplänen, eines Poesiealbums oder von Fotografien, die schon im Treppenhaus hängen. Wie das von jugendlicher Schü­le­r*in­nen auf einer Hafenrundfahrt 1936. Es sind Zeugnisse aus dem Leben.

Vor 1933 war die Schule ein moderner Bildungsort für jüdische Mädchen, besonders aus ärmeren Familien. Ab 1930 konnten sie dort sogar einen Realschulabschluss machen. Nachdem die Talmud-Tora-Schule im Hamburger Grindelviertel 1939 geschlossen wurde, wurden auch jüdische Jungen aufgenommen. Ab 1938 durften jüdische Schü­le­r*in­nen im „Deutschen Reich“ keine staatlichen Schulen mehr besuchen. Die neue Ausstellung, sagt von Villiez, erzähle nicht nur von der Shoah, sondern eben auch über jüdisches Leben in Hamburg. In ihr lasse sich vieles ablesen: jüdische, Bildungs- und Gendergeschichte. Diese drei Stränge sind auf den vom Hamburger Gestaltungsbüro „Raumproduktion“ entworfenen Tafeln farblich markiert.

Kim Estes-Fradis ist zur Eröffnung mit ihrem Bruder Wayne Estes da. Sie haben dem Gedenk- und Bildungsort schon die Schlittschuhe und den Schulranzen ihrer Mutter gespendet. Heute haben sie ihre alten Schulbücher mitgebracht. Erika Estis hatte sie ihr Leben lang aufbewahrt. Ihre Kinder fanden sie erst nach ihrem Tod.

Ihr Sohn Wayne Estes sagt, er und seine Geschwister glauben, die Bücher seien die letzte Verbindung seiner Mutter zu ihrem Leben in Hamburg gewesen. „She kept them forever, literally.“ Die Schule sei auch für ihn und seine Geschwister ein sehr wichtiger Ort. Sie verdankten ihr ihre Leben: „We owe the school our lives.“

Es war eine Lehrerin, die ihrer Mutter 1938 den Tipp gab, ihre Eltern zu bitten, sie auf einem Kindertransport nach England zu schicken. So überlebte Erika Estis die Shoah. Ihre Eltern, Irma und Paul Freundlich, wurden 1942 nach Polen deportiert. Wo genau sie ermordet wurden, wissen ihre Nachkommen nicht.

Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule, Karolinenstr. 35, Hamburg. Geöffnet Do. 14–17 Uhr, So. 10–14 Uhr und nach Vereinbarung. Telefon: ☎(040) 60 92 95 621

Angehörige ehemaliger Schü­le­r*in­nen oder Leh­re­r*in­nen, wie die Kinder von Erika Estis, kämen jedes Jahr zu Besuch, sagt die Historikerin Anna von Villiez. „Viele haben den Ort viel stärker auf dem Zettel als die Hamburger Öffentlichkeit“, sagt die Historikerin. Die neu überarbeitete Ausstellung richtet sich, anders als die alte, nicht mehr vorwiegend an ein deutsches nicht-jüdisches Publikum. Sie bietet auch Raum für Gedenken, ein Totenbuch mit den Namen aller ermordeter ehemaliger Schü­le­r*in­nen und Lehrer*innen.

Es solle, sagt von Villiez, auch ein Raum sein für die wachsende jüdische Gemeinde in Hamburg. An der Konzeptphase waren Nachkommen ehemaliger Schü­le­r*in­nen ebenso beteiligt wie Schü­le­r*in­nen jüdischer Schulen in Hamburg. In der ehemaligen Turnhalle der Schule feiert Hamburgs Liberale Jüdische Gemeinde Gottesdienst. Im Haus finden Sprachkurse in Hebräisch und Jiddisch statt.

Viele Ham­bur­ge­r*in­nen kennen den Ort bis heute nicht. Der Name der ehemaligen Schule ist heute außen am Gebäude wieder gut lesbar. Die historische Inschrift wurde 1981 rekonstruiert.

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