Bilanz der deutschen Fußballerinnen: Mehr Fortschritt wagen
Nach dem 3:1-Sieg in Portugal ist das DFB-Team bei der WM 2023 wohl dabei. Die Entwicklung der jungen Spielerinnen lässt schon für die EM 2022 hoffen.
Sara Däbritz und Melanie Leupolz kicherten. Die ulkigen Umstände der digitalen Pressekonferenz mit einem schwarzen Bildschirm bei einer instabilen Internetverbindung aus dem Estadio de São Luís in der Hafenstadt Faro und das überzeugende 3:1 im WM-Qualifikationsspiel gegen Portugal sorgten bei den beiden Mittelfeldspielerinnen für beste Laune.
Mit sechs Siegen aus sechs Spielen ist die Direktqualifikation für die WM 2023 in Australien und Neuseeland ganz nah. Kapitänin Däbritz, inzwischen bei Paris St. Germain heimisch, dirigiert seit Monaten mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit; Kollegin Leupolz, beim FC Chelsea vom ersten Tag an hoch angesehen, erarbeitet sich im Nationaltrikot wieder den früheren Stellenwert. Beide sind Teil einer stimmigen Gesamtkomposition, die Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg als eine gute Mischung aus „Unbekümmertheit und totalem Leadership“ beschreibt.
Nun geht es mit „riesiger Vorfreude“ (Däbritz) ins nächste Jahr, wenn die EM in England (6. bis 31. Juli) nach drei quälend langen Jahren endlich wieder eine größere Bühne bietet. Ende Dezember, Anfang Januar will die Trainerin rund 30 Spielerinnen anrufen, um individuellen Verbesserungsbedarf auszumachen. „Als Mannschaft sehen wir Entwicklungsschritte“, sagte die 53-Jährige, die vor allem die junge Garde als Gewinnerin aus 2021 ausmacht. Jule Brand (19 Jahre), Lena Oberdorf (19) und Lena Lattwein (20), Klara Bühl (20) und die zurückgekehrte Giulia Gwinn (22) sind Hoffnungsträgerinnen über die beiden nächsten Turniere hinaus. Doch erst einmal geht der Fokus auf die verschobene EM.
Den Frauen wird im Mutterland des Fußballs der rote Teppich ausgerollt. Das Eröffnungsspiel zwischen England und Österreich im Old Trafford ist bereits ausverkauft. Die Begeisterung soll der achtfache Europameister Deutschland bei einem Einladungsturnier erleben, an dem neben dem EM-Gastgeber und Olympiasieger Kanada auch Deutschlands Gruppengegner Spanien teilnimmt.
Kicken nach dem Playbook
Voss-Tecklenburg negiert nicht, dass es sich im Februar um die entscheidende Casting-Maßnahme handelt. Ihr Vorteil: Anders als noch vor der WM 2019 in Frankreich, als die neue Trainerin schlicht zu kurz im Amt war, um ihre Vorstellungen gegenüber den Spielerinnen, aber auch im eigenen Trainerteam durchgängig rüberzubringen, sind große Fortschritte gemacht. „Wichtig ist, dass wir wissen, wie wir spielen sollen.“
Voss-Tecklenburg spricht gerne „von unserem Playbook“, in dem hinterlegt ist, wie Spielaufbau, Pressing, das Anlaufverhalten oder Angriffsspiel aussehen sollen. Gegen den härtesten Widersachern der WM-Qualifikation krönten Lea Schüller (15.), Svenja Huth (23.) und Leupolz (28.) eine fast perfekte Anfangsphase.
Gefühlt sind die DFB-Frauen nicht so weit weg von der Weltspitze wie die Männer, doch für eine seriöse Einschätzung gab es in diesem Jahr schlicht zu wenige aussagekräftige Vergleichsmöglichkeiten. Weiteres Problem: die fehlende Öffentlichkeit. Bei keinem Heimspiel kamen mehr als 3.000 Zuschauer und auch die Einschaltquoten sind abgesackt: Es ist zu leicht, diesen Umstand nur auf die Anstoßzeit um 16 Uhr zu schieben. Doch nach DFB-Interimspräsident Rainer Koch hat auch die Bundestrainerin die Öffentlich-Rechtlichen für ihr Programmschema kritisiert. „Es heißt: 'Ihr könnt nicht um 18 oder 19 Uhr spielen, weil da kommt ‚SOKO Soundso‘ und da haben wir zwei Millionen Zuschauer'“, sagte sie im „Kicker“-Podcast „Fe:male view on football“.
Schade ist tatsächlich, dass weitgehend im Verborgenen blieb, wie vorbildhaft ihr Ensemble in Pandemiezeiten unterwegs war. „Die Impfquote bei uns ist bei nahezu 100 Prozent“, hat Voss-Tecklenburg vergangene Woche in einer Medienrunde gesagt, zu der auch Bundestrainer Hansi Flick zugeschaltet war, der etliche Impfskeptiker (und Coronafälle) moderieren musste.
Ebenfalls undenkbar wäre, dass Manuel Neuer, Antonio Rüdiger, Leon Goretzka oder Leroy Sané einen Teil ihres Sommerurlaubs opfern, um an der Sportschule Grünberg eine Trainerausbildung zu absolvieren. Genau das aber taten Almuth Schult, Sara Doorsoun, Lina Magull oder Alexandra Popp. Insgesamt 14 Nationalspielerinnen nahmen das Angebot der DFB-Akademie an, die Elite-Jugend-Lizenz zu erwerben und reisen bis heute teils früher zu den Länderspielmaßnahmen an, um Theorie- oder Praxiseinheiten abzuleisten. „Das ist ein Riesenmehrwert“, findet Voss-Tecklenburg. „Mich hat die Trainerausbildung zu einer besseren Spielerin gemacht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“