Bilanz der Schweinegrippe: Irgendwie unklar

Viel Hype um die Schweinegrippe: Es gibt zu viel Impfstoff und es gibt weniger Erkrankungen als befürchtet. Nur genaue Zahlen gibt es vorerst nicht.

Positiv getestet: Schweinegrippe. Bild: ap

Uwe Popert ist Hausarzt in Kassel und hätte einiges gern genauer gewusst: Als für eine Schweinegrippe-Diagnose kein Abstrich mehr gefordert wurde, schlug er Kollegen vor, für eine Studie in Kassel daran festzuhalten. Als die Schweinegrippe-Impfung begann, wollte er andere Ärzte für eine systematische Erfassung der Nebenwirkungen gewinnen. Beides klappte nicht. Das kann Popert verwinden. Aber über den Umgang mit der Schweinegrippe ereifert er sich weiter: "Wir betreiben hier einen Großversuch - aber niemand wertet ihn aus."

Für eine abschließende Beurteilung der Grippesaison in Deutschland ist es noch zu früh. Und das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin warnt zudem, dass eine weitere Welle von H1N1-Infektionen möglich sei. Doch auch in ein oder zwei Monaten dürften viele Fragen zum Schweregrad der Influenza-Welle ungeklärt sein. Denn in Deutschland werden zwar jede Menge Daten gesammelt - nicht aber unbedingt solche, die für eine Auswertung nötig wären.

Wer etwa wissen will, wie viele mit dem H1N1-Virus infizierte Patienten aktuell auf deutschen Intensivstationen an einer extra-korporalen Lunge hängen, kann einzelne Kliniken anrufen. Zentral erfasst wird so etwas nicht. Das RKI würde gern für bessere Überblicksdaten sorgen. Es versucht Kliniken für sein Anfang Dezember gestartetes Projekt Piks (Pandemische Influenza Krankenhaus Surveillance) zu gewinnen. Bis Ende März hätte man damit systematisch die Zahl der stationären Patienten mit nachgewiesener H1N1-Infektion erfassen können. Für alle Todesfälle und einen Teil der Erkrankten würde ermittelt, wie sie sich angesteckt haben könnten, welche Risikofaktoren sie mitbrachten, wie die Krankheit verlief, welche Therapie sie erhielten - und ob sie geimpft waren. Doch bislang beteiligten sich ganze zwölf Häuser - nur ein Prozent der infrage kommenden Kapazität. "Wir würden uns 10 Prozent wünschen", sagt RKI-Sprecher Günther Dettweiler.

Ab Donnerstag verhandeln der Bund und die Länder Niedersachsen, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Thüringen mit dem Pharmahersteller GlaxoSmithKline (GSK) über die Abnahme der bestellten 50 Millionen Dosen des Impfstoffs Pandemrix.

Preis: Wie viel Geld GSK für den bestellten Impfstoff bekommen soll, ist unklar: zwischen 416,5 und 500 Millionen Euro.

Stornierung: Nach Angaben des Thüringischen Gesundheitsministeriums, das die Impfstoffbestellung koordinierte, gibt es keine Klausel, die bei geringer Nachfrage des Impfstoffs oder einer Dosierungsänderung Abbestellungen oder Preisnachlässe vorsieht.

Geheimhaltung: Offiziell unterliegen die Details des Vertrages der Geheimhaltung - allerdings nicht gegenüber parlamentarischen Gremien.

Inhalte: Das Arznei-Telegramm dokumentiert die Verträge im Internet, worin GSK etliche Zusagen zur Haftungsfreistellung gemacht werden. Bei frühzeitigem Ende der Pandemie sind hohe Abschlagszahlungen vereinbart. (kaj)

Trotzdem dürften Epidemiologen später viel genauer über die Schweinegrippe Bescheid wissen als über jede bisherige Grippesaison. Dazu trägt nicht zuletzt die Meldepflicht für Todesfälle bei, bei denen im Krankheitsverlauf das H1N1-Virus nachgewiesen wurde. Unabhängig davon, ob die Infektion auch Todesursache war, gelten all diese Fälle als Schweinegrippe-Tote im Sinne der RKI-Statistik.

Das ist deutlich genauer als die Daten zu einer normalen Grippesaison. Die nämlich werden mit einem mathematischen Modell hochgerechnet. Die Methode ist, so betont das RKI, international anerkannt und bewährt. Aber das Ergebnis bleibt eine Schätzung, in die leicht auch Tote mit Atemwegserkrankungen eingehen, die gar nicht an Influenza erkrankt waren. Die RKI-Statistik zählt für Deutschland bislang 215.881 Fälle von Schweinegrippe, doch dürfte die tatsächliche Zahl höher liegen, weil zum Teil nur der Labornachweis galt. Die Zahl der Toten wird mit 159 angegeben.

Ob Patienten tatsächlich an der Schweinegrippe gestorben sind, ist selbst mit Obduktion nicht immer eindeutig zu bestimmen: Im Klinikum Kassel starb Anfang November eine 15-jährige Schülerin. Ein Speicheltest hatte das H1N1-Virus bei dem Mädchen nachgewiesen. Die Obduktion bestätigte eine Herzmuskelentzündung als Todesursache. Doch ob diese durch das Schweinegrippe- oder ein anderes Virus ausgelöst wurde, ließ sich nicht klären.

Markus Schimmelpfennig, Leiter des Seuchen-Referats, ist kein Mann, der Gefahren kleinredet. "Es ging nicht darum, Leute in falscher Sicherheit zu wiegen, sondern darum, den Sachverhalt korrekt darzustellen." Dass ein Fall wie dieser in der RKI-Schweinegrippe-Toten-Statistik auftaucht und die Boulevardpresse eine "Rührzeile für sensationsgeile Leser" daraus zimmert, macht seine Arbeit nicht leichter.

Im nahen Göttingen hat Helmut Eiffert viel mit der Schweinegrippe zu tun. Der Professor für Mikrobiologie bestätigt, dass viele schwere Schweinegrippe-Fälle ins Uniklinikum eingeliefert werden. "Wir haben hier seit zwei Monaten im Schnitt fünf Personen mit Schweinegrippe auf der Intensivstation", sagte er kurz vor Weihnachten. Schlüsse kann er daraus wenige ziehen. Er weiß nicht, wie viel Prozent der Bevölkerung im Einzugsgebiet der Klinik das sind.

Auch Eifferts Kollege Michael Kochen befasst sich mit der Schweinegrippe. Diese mit der Spanischen Grippe von 1918 zu vergleichen, bezeichnete er als "aus mehreren Gründen hanebüchen". Der Erreger sei damals überwiegend auf Menschen in ärmlichen und hygienisch unzureichenden Lebensverhältnissen gestoßen. Es habe keine Antibiotika zur Behandlung bakterieller Komplikationen gegeben. Und, so Kochen, den Kranken sei damals eine Therapie empfohlen worden, die bei vielen Patienten zu einem Lungenödem führte. Sie seien "regelrecht erstickt". Doch das weiß man erst heute.

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