Bhagwans sexuelle Revolution: Jugend in Orange
Auch der indische Guru Bhagwan predigte die sexuelle Befreiung. Erinnerung an eine Kindheit in einer Sannyas-Kommune.
Als ich am ersten Abend mein neues Zimmer betreten wollte, schlug mir von drinnen ein lautes, bis dahin noch unvertrautes Stöhnen entgegen. Mein erwachsener Mitbewohner, den ich bis dahin noch gar nicht kennengelernt hatte, war offenbar gerade mit einer Freundin zugange. So musste ich mich gedulden, bis die beiden geendet hatten, bevor ich ins Bett gehen konnte.
Meine Mutter war mit meiner Schwester und mir 1982 in eine Kommune gezogen, die ein paar Bhagwan-Anhänger gerade in unserer süddeutschen Kleinstadt gegründet hatten, da war ich knapp zwölf Jahre alt. Schon zuvor war sie regelmäßig ins örtliche Meditationszentrum gepilgert und hatte uns mitgenommen. Ich erinnere mich an eine Teestube mit indischen Kissen und an Partys mit einer Liveband, die Songs von den Stones oder Police nachspielte und mit rockigen Bhagwan-Oden mischte. Wir Kinder dämmerten in einem Nebenzimmer weg, während die Erwachsenen den Rest der Nacht durchtanzten.
Meine Mutter war irgendwann selbst Sannyasin geworden, wie sich die Anhänger des indischen Gurus mit dem spöttischen Lächeln nannten, sie kleidete sich fortan in Rot- und Orangetönen und trug eine Holzperlenkette mit seinem Foto. Die Anziehungskraft der „Bhagwan-Bewegung“ beruhte teils auf einer Mischung aus östlicher Pop-Philosophie, Psychoanalyse-Diskurs und körperbetonten „Meditationen“, teils auf dem Wirken seiner Anhänger. In den Achtzigerjahren prägten sie vielerorts das Stadtbild – mit Restaurants, Meditationszentren und Diskotheken, die sie nach und nach in fast allen bundesdeutschen Großstädten eröffneten.
Schon bald nachdem wir in die Kommune gezogen waren, wurden wir Kinder in einem Zimmer zusammengelegt, später wurde daraus eine halbe Etage. Denn die Kommune wuchs, und es kamen immer mehr Kinder dazu. So wohnten wir nun zwar getrennt von den Erwachsenen. Aber die räumliche Nähe führte trotzdem dazu, dass uns auch weiterhin nichts Zwischenmenschliches fremd blieb.
Hat die sexuelle Revolution die Kinder auf dem Gewissen? Oder ist die heutige Aufregung über frühere Pädophiliefreundlichkeit hysterisch? Die taz will das Damals nicht nur aus dem Heute verstehen. Und blickt deshalb mit einem Dossier zurück: Auf Wilhelm Reich, Befreiungsdiskurse und Kommunen-Experimente. Und auf das Erbe der Befreiung. Die Ausgabe im eKiosk.
Wurden wir vernachlässigt?
Drei Jahre später saß ich im Zug nach England, wo eine Internatsschule als Experimentierfeld für das Sannyas-Ideal einer freien Erziehung hergerichtet wurde. Ein altes Herrenhaus nördlich von London diente als Auffangbecken für all die Kinder, die zuvor in Kommunen in ganz Europa verstreut gelebt hatten. Fast alle von uns kamen allein, ohne Eltern, was für die Sechs- bis Elfjährigen wie meine Schwester weit schwerer zu verkraften war als für uns Teenager, die wir unsere Freiheit genossen.
Einige dieser Kinder sollten später Bücher schreiben, in denen sie ihren Eltern den Vorwurf der Vernachlässigung machten. Aber als ich später wieder auf eine reguläre Schule ging, sollten meine Mitschüler mich um diese Freiheit beneiden. Denn dass unsere Eltern vor allem mit ihrer Selbstverwirklichung beschäftigt waren, bedeutete auch, dass sie uns nur noch wenig vorschreiben konnten.
Im Internat herrschte eine Atmosphäre wie in einem Landschulheim, aus dem sich die Lehrer weitgehend zurückgezogen hatten. Doch der Ausnahmezustand sollte kein Jahr anhalten. Als Bhagwan 1985 in den USA verhaftet und ausgewiesen wurde, weil sich sein engstes Umfeld krimineller Machenschaften schuldig gemacht hatte, brach auch das System seiner Kommunen in Europa zusammen.
Niemand fühlte sich verantwortlich
Die sexuelle Befreiung stand im Zentrum von Bhagwans Lehre, weswegen Medien ihn gerne als „Sex-Guru“ titulierten. Viele, die wie ich in der offenherzigen Atmosphäre seiner Kommunen aufgewachsen sind, haben ihre ersten sexuellen Erfahrungen wohl etwas früher als der Durchschnitt gemacht. Aber es gab auch Schattenseiten. Erst viel später habe ich erfahren, dass ein äußerst beliebter Lehrer damals an dem Internat mindestens ein neunjähriges Mädchen missbraucht haben soll.
Die Schule und die Kommunen gibt es nicht mehr – und damit keine Institution, die sich heute dafür verantworten müsste. Aber die Jeder-hat-sein-Karma-zu-tragen-Einstellung hat auch verhindert, dass sich irgendwer für solche Taten verantwortlich fühlt.
Bhagwan selbst hat über Sex zwischen Erwachsenen und Minderjährigen übrigens nie gesprochen. Und das, obwohl er sich sonst zu allem Möglichem geäußert hat: Wegen der Aids-Epidemie empfahl er seinen Jüngern in den frühen Achtzigerjahren sogar Sex mit Kondom und Gummihandschuhen.
Tantra wurde Teil der Gesellschaft
Manche seiner oft haarsträubenden Aussagen, mit denen er hierzulande Schlagzeilen machte – etwa über Hitler oder zur Homosexualität –, waren, wie seine sagenumwobene Autoflotte von 93 Rolls-Royce, vor allem auf Schockwirkung angelegt. Sie hatten erstaunlich wenig Bezug zum Alltag in den Kommunen, in denen Menschen aller möglichen Herkünfte, sexuellen Orientierungen und Interessen zusammenkamen.
Mit vielem, was der indische Selfmadeguru damals predigte, war er seiner Zeit voraus: Selbsterfahrungskurse, Körpertherapie, Esoterik-Klimbim und Tantraseminare sind heute Teil des gesellschaftlichen Mainstreams geworden. Anderes hat die Zeiten nicht so gut überdauert.
Nachdem Bhagwan seine selbst begründete Religion 1985 mit einem Schlag aufhob und sich selbst fortan Osho nannte, hängten die meisten seiner Anhänger, auch meine Mutter, ihre roten Klamotten und Holzperlenketten an den Nagel. Die Kommunen lösten sich auf, die meisten ihrer Bewohner kehrten in ein mehr oder weniger bürgerliches Leben zurück. Die klassische Paarbeziehung, die traditionelle Familie und der individuelle Materialismus erwiesen sich als stärker als der utopische Charakter der Kommunen.
Meine Jugend habe ich als glücklich und aufregend empfunden. Meine eigenen Kinder erziehe ich trotzdem anders. Als der Mann, der sich nunmehr Osho nannte, im Januar 1990 starb, empfand ich – nichts.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies