■ Bewegungsmelder: Deutsche Geschichte schleicht durchs Internet
Es ist wohl das billigste staatliche Museum, das in Berlin je eröffnet wurde. Rund eine Million Mark hat das Lebendige Virtuelle Museum Online (LeMO) gekostet, das diese Woche in Berlin eröffnet wurde. Doch die engen Räume des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik, in denen die Premierengäste ihre Häppchen vertilgten und die Exponate bestaunten, werden die künftigen Besucher nie zu Gesicht bekommen. Denn in dem neuen Museum werden sie vom heimischen PC aus durch die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts spazieren können – und sich darüber hinwegtrösten, daß das Deutsche Historische Museum (DHM) derzeit wegen Umbaus geschlossen ist.
Technisch ist der Besuch in der virtuellen Ausstellung freilich noch immer weit aufwendiger als der Kauf eines Entreebilletts für ein konventionelles Museum. Zwar sind die Software-Experten des Fraunhofer-Instituts stolz darauf, mit einer „ausgesprochen preiswerten Technologie“ erstmals „Daten dieser Größenordnung für den heimischen PC“ zugänglich gemacht zu haben. Doch an die Übertragungswege, so scheint es, haben sie nicht so viele Gedanken verschwendet. Um in den Genuß von Videos und O-Tönen zu kommen, muß sich der Museumsbesucher erst einmal an die Breitbandkabel des Deutschen Forschungsnetzes (DFN) anschließen lassen. Mit einer schnöden ISDN-Leitung hingegen sind selbst die dreidimensionalen Museumswelten nur mit langen Wartezeiten und starkem Ruckeln zu genießen. Wer bloß über einen herkömmlichen, analogen Telefonanschluß verfügt, findet genügend Zeit für die Lektüre eines dicken historischen Wälzers, während sich allein schnöde Text-Bild- Seiten aufbauen. Es ist schon erstaunlich, mit welchem Elan technikverliebte Programmierer immer aufwendigere Systeme entwickeln und das breite Publikum damit immer aufs neue verschrecken. Skepsis ist also angebracht, wenn Institutschef Herbert Weber verspricht, in zwei Jahren sei das jetzt „nahezu perfekte“ virtuelle Museum dann wirklich „perfekt“. Kleine Erkenntnisfortschritte sind indes zu verzeichnen, denn Weber hat erkannt: „Eine platte Spiegelung der Realität hat keine Zukunft.“ Keine Gefahr also, daß die virtuelle Präsentation eines Tages das Original ersetzt. Statt dessen bietet das Museum jetzt bewußt virtuelle Erlebniswelten, etwa ein dreidimensionales Schema des Weimarer Verfassungsaufbaus.
Solche Sinnbilder mögen das Geschichtsverständnis tatsächlich befördern, auch wenn derlei Geschichtsvermittlung vorerst einer kleinen Gruppe von Technikfreaks vorbehalten bleibt – die aber haben wohl schon am ehesten erkannt, daß neue Kommunikationstechniken an den großen Strukturen von politischer Herrschaft und sozialer Schichtung nur wenig ändern.
Der beste Beweis dafür ist, daß Politiker und Manager zwar stets den Fetisch Internet beschwören, sich aber bei der Einweihung ihrer Homepage eines riesigen roten Knopfs bedienen – einer modernen Variante jener unbeholfenen Linien, mit denen die schreibunkundigen Könige des Mittelalters ihre Urkunden unterzeichneten. Wir werden von virtuellen Analphabeten regiert. Ralph Bollmann
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