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Bewegtheit und Aufbruch

Doppel Blick auf Migration: Philip Scheffners Filme „And-Ek Ghes“ und „Havarie“ (Forum)

Eine formal radikale Perspektive: „Havarie“ von Philip Scheffner Foto: pong/Berlinale

Mit gleich zwei Filmen ist Regisseur Philip Scheffner dieses Jahr in der Sektion Forum vertreten: „Havarie“ und „And-Ek Ghes“. Beide kommunizieren mit Scheffners vorheriger Arbeit, welche wiederum eng mit der Merle Krögers verwoben ist. In gemeinsamen Recherchen erschließen sie Komplexe, die anschließend in sehr unterschiedliche Gefäße gegossen werden. Verfasste Merle Kröger mithilfe der „Havarie“-Recherchen einen gleichnamigen Kriminalroman, der im vergangenen Jahr erschienen ist und anhand zahlreicher Erzählstränge die Situation auf dem Mittelmeer zu fassen sucht, mündete die Wissensbeschaffung für Scheffner im experimentellen Dokumentarfilm „Havarie“. Formal radikal gestaltet, zeigt „Havarie“ ausschließlich jenen YouTube-Clip, der zum Ausgangspunkt der Recherchen wurde.

Es ist die Amateuraufnahme eines Touristen auf dem Kreuzfahrtschiff „Adventure of the Seas“ aus dem Jahr 2012. Sie zeigt ein havariertes Schlauchboot inmitten eines blauen Teppichs. Die dreizehn auf dem Schlauchboot befindlichen Personen sind nur schemenhaft zu erkennen. Über neunzig Minuten hält „Havarie“ die Aufnahme fest, streckt sie und unterlegt sie mit dem Funkverkehr zwischen dem nächstgelegenen spanischen Hafen Cartagena, einem Seenotrettungskreuzer und einem Helikopter. Hinzu kommen Tonaufnahmen, auf denen Besatzungsmitglieder des Cruise Liners wie auch eines Containerschiffs zu hören sind sowie Aufzeichnungen einer Gruppe Harraga, auch Les Bruleurs genannt – also jene, „die ihre Pässe verbrennen“.

Die Kamera rotiert

Im zweiten Film, „And-Ek Ghes“, mündet die Fluchtlinie eines früheren Projekts in die Gegenwart. Vor einigen Jahren beschäftigten sich Philip Scheffner und Merle Kröger mit einem Kriminalfall, der sich 1992 an der Grenze zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Polen ereignete: Zwei rumänische Roma wurden im Morgengrauen von zwei deutschen Jagdtouristen erschossen. Der Fall wurde nicht endgültig geklärt. Scheffner und Kröger stellten im Rahmen ihrer Recherche, die man auch als eine nachträgliche Ermittlung bezeichnen kann, den Kontakt zu den in Rumänien verbliebenen Familienmitgliedern her. Hier begegneten sie Colorado Velcu und seiner Familie, der in „And-Ek Ghes“ neben Scheffner nun als Koregisseur auftritt. Eine konsequente Entscheidung, da nicht wenige Aufnahmen von Colorado Velcu selbst stammen. Auftakt zu den gemeinsamen Dreharbeiten: ein Besuch Scheffners in Essen, wo Familie Velcu gerade eine Wohnung bezogen hatte. Mit im Gepäck: eine Kamera als Präsent für Velcus 13-jährige Tochter Noami. Folge: Das Gerät beginnt zu rotieren, fasst nach und nach auch zwei weitere Familien in den Blick.

Am Ende sind vier Kameras und mehrere Handys im Einsatz, die nicht nur Bewegtheit und Aufbruch, sondern auch einen mitunter sorgenvollen Alltag zeigen. Das Scharnier von „And-Ek Ghes“ bildet der Umzug der Velcus nach Berlin. Was an sich schon spannend wäre, erhält durch die verschiedenen Kameramänner, -frauen und -kinder eine besondere Qualität. Eine Spannung zwischen Mobilität, Rasanz, selbstreflexiven Momenten und offenkundigen Inszenierungen entsteht. Die Familien integrieren das Filmen auf verschiedene Art, was, je nach Motivation, zu unterschiedlichen Bildresultaten führt. Am Ende wartet „And-Ek Ghes“ sogar mit einem – ziemlich inbrünstigen – Musik­video auf. Es ist der Clip zu einem Song, den Colorado Velcus Sohn im Laufe der Dreharbeiten geschrieben und eingespielt hat. Carolin Weidner

„And-Ek Ghes“. 19. 2., 20 Uhr, Kino Arsenal (E); 21. 2., 20 Uhr, Colosseum (D)

„Havarie“. 20. 2., 22 Uhr, CinemaxX (D)

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