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„Beweglicher, wacher, empfindlicher“

Volker Hesse, Intendant des Maxim Gorki: Mit aktuellem Theater aus Berlin das Lebensgefühl Mitteleuropas zeigen

taz: Herr Hesse, was ist von der Tradition des Maxim Gorki Theaters, der Realismus auf der Bühne, noch übrig geblieben?

Volker Hesse: Wenig. Das Maxim Gorki hat Zeiten hinter sich, die eng mit der Erziehung zum Sozialistischen Realismus verbunden sind, was oft hieß: Propagandastücke. Die sind natürlich mit dem Zusammenbruch der DDR verschwunden. Das Erbe des großen russischen Schauspiellehrers Stanislawski ist aber sicher nicht tot.

Nach der Wende hat das Maxim Gorki einen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen. Wo steht es denn heute?

Wir haben einen sehr spannungsvollen Standort. Wir sind ja im Zentrum vieler Spannungen zwischen Regierung, der Universität, den Medien. Hier in Berlin-Mitte haben sich im letzten Jahrzehnt neun Zehntel der Bevölkerung ausgetauscht. Eine unserer Funktion ist es, diese Auswirkungen der politischen Prozesse auf Einzelne hier wahrzunehmen und zu verarbeiten.

Wer ist Ihr Publikum?

Wir richten uns an eine intelligente, bewegliche, großstädtische Szene. Für uns spielt es eine große Rolle, dass wir unmittelbar neben der Humboldt-Uni sitzen. Die Studenten schätzen diese Theatereinrichtung in ihrer Nachbarschaft, dass merken wir vor allem im Studio. Wir machen auch Theater für Leute, die in den verschiedensten Formen mit den politischen Prozessen verbunden sind. Ich träume als relativ kleines Staatstheater davon, eine Beweglichkeit, eine Wachheit, eine schnell reagierende Empfindlichkeit zu haben, die größere Betriebe nicht so schnell aufbringen können.

Ein Beispiel?

„Karussell“, das Stück von Klaus Chatten. Das ist eine Auftragsarbeit über die Nachtseiten Berlins und insbesondere der Schwulenszene. Solche Abende, die sich auf überraschende Weise auch an dem Umfeld Berlin reiben, das kann eine kräftige Linie unseres Programms für die Zukunft sein.

Das ist ja nicht überall gut angekommen. Spricht das für die Schwierigkeit, das alte Stammpublikum zu halten und gleichzeitig um ein neues zu werben?

Ja, das ist ein Spagat. Wenn mein Vorgänger Bernd Wilms hier Harald Juhnke für den Hauptmann von Köpenick holte, zog das anderes Publikum an als „Karussell“ oder „Merkels Brüder“, ein Stück über Machtkampftechniken von Spitzenpolitikern. Diese Ausrichtung auf eine bestimmte Voraussetzungen mitbringende Szene, die braucht einen bestimmten Zeitprozess. Deshalb waren einige Anfänge nicht leicht.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Theaters?

Ich wünsche mir gute, neue Autorinnen und Autoren, die ganz spezifisch aus Berlin und aus Erfahrungen in dieser Stadt heraus schreiben. Es ist eine Tatsache, dass immer wieder Empfindsame und Intelligente in diese Stadt strömen. Man kann hier an diesem Lebensraum konkret ansetzen und gleichzeitig Exemplarisches über unser Lebensgefühl in Mitteleuropa aussagen. INTERVIEW: ADRIENNE WOLTERSORF

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